Onur Güntürkün: Die vielfache Evolution des Denkens
Die Fähigkeit zu komplexem Denken hat uns Menschen unsere einzigartig dominierende Stellung in der Welt verliehen. Unser Denken basiert größtenteils auf neuronalen Interaktionen von Milliarden Nervenzellen unserer Hirnrinde (Cortex). Die Verschaltungsprinzipien dieser corticalen Zellen des Menschen sind identisch mit denen von Cortexneuronen anderer Säugetiere wie z. B. Schimpansen, Katzen oder Ratten. Der große Unterschied ist: Wir haben erheblich mehr von diesen corticalen Zellen. Aus diesen Erkenntnissen speist sich die momentan
dominierende Theorie über die Evolution des Denkens. Diese Theorie besagt, dass vor ca. 150 Millionen Jahren die typischen Verschaltungsprinzipien der Hirnrinde von Säugetieren entstanden sind. Viel später entstanden dann wir Menschen mit unserer enormen kognitiven Fähigkeit und einem Cortex, der mehr Nervenzellen aufweist als der jedes anderen Tieres.
Diese Theorie ist leider falsch. Mittlerweile wissen wir, dass Raben, Krähen und Papageien ohne eine Hirnrinde und mit erheblich kleineren Gehirnen sehr ähnliche kognitive Leistungen erbringen können wie z. B. Schimpansen. D. h. die Fähigkeit zu komplexen Denkprozessen hängt nicht von den Verschaltungsprinzipien des Cortexes ab. Dazu kommt, dass Vögel mit erheblich kleineren Gehirnen die meisten Säugetiere kognitiv überflügeln. Wie schaffen sie das? Wir stehen erst am Anfang der Auflösung dieses Rätsels. Aber eines ist jetzt schon gewiss: Die Evolution komplexer Denkprozesse geschah im Verlauf der Evolution mehrfach und parallel zueinander mit unterschiedlichen Typen von Hirnstrukturen.