Das beginnende 19. Jahrhundert bringt für die Akademie in Berlin einen tiefgehenden Wandel ihres Selbstverständnisses, der mit den Namen Friedrich Schleiermacher und Wilhelm von Humboldt eng verknüpft ist. Leitend für die "innere und äussere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten" (1) wird die Ausbuchstabierung der Charakteristika des 'wissenschaftlichen Geistes' (Schleiermacher) als einer Verbindung von disziplinärer Forschung und transdisziplinärer Synthese, Erkenntnisproduktion und Tradierung des wahren Wissens. (2) Diese Idee der Wissenschaft lebt in Universitäten ebenso wie in Akademien; beide können und müssen deshalb zum Wohl des wissenschaftlichen Fortschrittes in eine organische Verbindung gebracht werden.
Daß die Gleichung für eine fruchtbare Zukunft nicht lauten kann: hie Lehre, da Forschung ist klar. Die Prosperität des 'wissenschaftlichen Geistes' verträgt solche Segmentierungen nicht. Die Verschiedenheit der geistig einigen Institutionen sieht Wilhelm von Humboldt in den Umweltbeziehungen. Die Universität steht durch ihre Ausbildungsleistung in einer engen Beziehung zu den Bedürfnissen von Staat und Gesellschaft, während die Akademie ihre Leistung für die einzelnen Wissenschaften erbringt, indem sie als Gesellschaft der Forscher die Arbeit des einzelnen der Beurteilung aller aussetzt. (3) Diese Funktionszuschreibung hat überzeugt. In den am 24. Januar 1812 verabschiedeten Statuten der Akademie heißt es über ihre Aufgabe: Der Zweck der Akademie ist auf keine Weise Vortrag des bereits Bekannten und als Wissenschaft geltenden, sondern Prüfung des Vorhandenen und weitere Forschung auf dem Gebiete der Wissenschaft." (4)
(1) So der Titel der von Wilhelm von Humboldt im September 1809 begonnenen Denkschrift.
(2) Vgl. die Zitate aus Schleiermachers Denkschrift bei Walter Rüegg, Ortsbestimmung. Die Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften und der Aufstieg der Universitäten in den ersten zwei Dritteln des 19. Jahrhunderts, in: Kocka, Jürgen, R. Hohlfeld & P. Th. Walter (Hg.), Die Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften zu Berlin im Kaiserreich, Berlin 1999, S.26.
(3) Wilhelm von Humboldt: Über die innere und äussere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin, September 1809-1810, zit. n.: A. v. Harnack: Geschichte der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Berlin 1900, II:364.
(4) Ibid.: 367.
"Dreiundzwanzig Jahre hindurch (1763-1786) sass der wirkliche Präsident der Akademie in Paris, erst d'Alembert, dann Condorcet; die Sekretare der französischen Akademie leiteten zugleich die preussische! Wer etwas erreichen und durchsetzen wollte, wandte sich über Paris an den König! ... Diese Fremdherrschaft im eigenen Lande hat der König geschaffen und ertragen, der im Felde die Franzosen besiegt hat und der die französische Litteratur als sinkend beurtheilte." (1)
Nach dem Tod Friedrichs II. hielten manche dafür, in der Akademie müsse der 'deutsche Geist' gestärkt werden. Anhalt fanden solche Überzeugungen etwa in der Zusammensetzung der Mitglieder: fünf Deutschen, alle Naturforscher, standen dreizehn aus anderen europäischen Ländern kommende Mitglieder gegenüber; oder in dem Wunsch, an die Stelle des Französischen solle Deutsch als Wissenschaftssprache treten. In Ewald Friedrich von Hertzberg, der 1786 vom neuen Regenten Friedrich Wilhelm II. zum Curator der Akademie ernannt wurde, hatten die Befürworter dieser Richtung einen engagierten Verteter. Er "vermochte die Akademie aus einer französischen in eine deutsche umzuwandeln". (2)
Sein Studium der Rechts- und Staatswissenschaften sowie der Philosophie hatte Herzberg in Halle absolviert; er war Schüler von Christian Wolff. Seit 1745 im Departement für Auswärtige Angelegenheiten angestellt, erwarb er sich bei seinem Arbeiten für Friedrich II. gründliche Kenntnisse der brandenburgisch-preußischen Geschichte, aller Titel, Verträge, Erbansprüche und genealogischen Verbindungen. Seine Abhandlung "Über die erste Bevölkerung der Mark Brandenburg" von 1752 war die Eintrittskarte in die Akademie. Sein umfassendes Wissen über die Geschichte Preußens trug ihm bei der Ausarbeitung von Staatsverträgen die Federführung ein. An den Friedensverhandlungen nach dem Siebenjährigen Krieg war Hertzberg als Unterhändler beteiligt und im gleichen Jahr avancierte er zum zweiten Staats- und Kabinettsminister. Erst vier Jahre vor seinem Tode schied er aus diesem Amt.
Als Kurator wollte der erfahrene Staatsmann Hertzberg die Akademie nicht nur verwalten, sondern sie gleichsam als Präsident leiten und umgestalten. Die erste Maßnahme galt den 'Köpfen': seinen Vorstellungen enstprechend wurden fünfzehn neue Mitglieder aus dem Kreis der Berliner Aufklärung ernannt. Er nahm die finanziellen Angelegenheit der Akademie in die eigene Hand und betrieb konsequent die Etablierung des Deutschen als Verständigungs- und Publikationssprache, was von nicht wenigen deutschen Gelehrten als Befreiung empfunden wurde. (3) Hilfreiche Grundlage für diese reformerische Akademiepolitik war es gewiß, daß Hertzberg politisch fest auf dem Boden der absoluten Monarchie stand und seine Kritik an der Französischen Revolution in einem Akademievortrag am 30.9.1789 auch öffentlich bekundete (4).
Sein Tod zwei Jahre später bedeutete freilich auch das Ende der "Deputation zur Beförderung der deutschen Sprache" in der Akademie. Pikanterweise wurde es ihr von Johann Christoph von Woellner, einem der von Hertzberg 1786 berufenen Mitglieder bereitet. Woellner, von Friedrich II wegen der Abfassung und Durchsetzung des Religionsedictes von 1788 nur der "betrügerische und intrigante Paffe" genannt (5), stellte 1795 die alten sprachlichen Verhältnisse von 1746 wieder her. Auch wurde darauf verzichtet, für die nächsten fünf Jahre, neue Mitglieder zu wählen.
Die Dynamik war erst einmal aus der Akademientwicklung gewichen. - Aber die Humboldts und Schleiermacher sollten kommen.
(1) A. v. Harnack, Geschichte der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Berlin 1900, 1.1:391.
(2) Ibid:497. Um keinen falschen Eindruck von der Bewertung entstehen zu lassen, soll der Fortgang des Satzes nicht verschwiegen werden: "aber er richtete ein Deutschthum auf, das hinter der Zeit zurückgeblieben war. Er reformierte die Akademie - das soll ihm unvergessen sein - , aber dieser Reformation bedurfte selbst wieder der Reformation!"
(3) Vgl. Die Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften zu Berlin im Kaiserreich, hrsg. v. Jürgen Kocka unter Mitarbeit von Rainer Hohlfeld und Peter Th Walter, Berlin 1999:415.
(4) Vgl.Conrad Grau: Die Preußische Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Heidelberg-Berlin-Oxford 1993:120.
(5) A. v. Harnack, a.a.O.:1.2:
Unter der Leitung ihres Sekretars Max Planck nahm eine Abordnung der Preußischen Akademie der Wissenschaften am 7. September 1925 an den Feierlichkeiten zum 200. Jahrestag der 1724 durch Peter I. gegründeten Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg teil. In seiner Glückwunschadresse betont und beschwört Planck den politische und kulturelle Differenzen überwindenden Charakter der Grundlagenforschung: "Der Tag an welchem die Akademie der Wissenschaften von Rußland das zweite Jahrhundert ihrer Geschichte vollendet, ist für die gesamte wissenschaftliche Welt ein Fest- und Ehrentag. Gibt es doch gerade in der jetzigen Zeit vielfacher Zerrissenheit für die verschiedenen Länder der Erde mit ihren oft weit auseinandergehenden Interessen auf politischem, wirtschaftlichem, künstlerischem, religiösem Gebiet kein Band, welches sie unbedingter und aufrichtiger zusammenschließt als die gemeinsame Arbeit der reinen Wissenschaft. Darum bedeutet der heutige Gedenktag, an welchem das erste und vornehmste wissenschaftliche Institut dieses gewaltigen Reiches den Anbruch eines neuen Jahrhunderts erlebt, zugleich einen Markstein in der Entwicklungsgeschichte der internationalen Wissenschaft."
Das Neue Rußland, 2. Jg., H. 7/8, zit. n.: Die Berliner Akademie der Wissenschaften in der Zeit des Imperialismus, Berlin 1975, II:218.
Glückwunschadresse
In Gesprächen skizzierten die Repräsentanten beider Akademie bei diesem Aufenthalt die Grundlinien der künftigen deutsch-russischen Wissenschaftsbeziehungen. In Deutschland sollte ein Sonderausschuß der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft für die Zusammenarbeit mit der Wissenschaft der Sowjetunion geschaffen werden, in den die Akademiemitglieder Max Planck und Heinrich Lüders gewählt wurden. Nachdem die Preußische Akademie schon Anfang der zwanziger Jahre den traditionellen Schriftenaustausch mit der russischen Akademie wiederbelebt hatte, wurden nach den gemeinsamen Festlegungen des Sonderausschusses konkrete Projekte in Angriff genommen. Neben Forschungsvorhaben etwa auf altertumswissenschaftlichem Gebiet sowie der gemeinsamen Alai-Pamir-Expedition im Jahre 1928, nahm man sich vor allem der Förderung unmittelbarer Diskussionskontakte an und veranstaltete vom 19. bis 27. Juli 1927 in Berlin eine deutsch-sowjetische Naturforscherwoche und im Juli des folgenden Jahres eine vielbeachtete Historikerwoche, an der sich führende sowjetische und deutsche Historiker beteiligten und ihre unterschiedlichen geschichtstheoretischen Konzepte diskutierten.
Vgl.: Die Berliner Akademie der Wissenschaften in der Zeit des Imperialismus, Berlin 1975, II:215-227.
– vom Militärarzt zum Kanzler der Wissenschaft –
Unter den großen Naturforschern des vorigen Jahrhunderts nimmt Hermann von Helmholtz eine Sonderstellung ein. Er bereicherte mit einer seitdem nicht wieder erreichten Vielseitigkeit als Experimentator und Theoretiker die Physik, die Physiologie, die Medizin, die Chemie sowie die Mathematik und trug wesentlich zur Klärung der erkenntnistheoretischen Grundlagen der Naturwissenschaft bei. Darüber hinaus hat Helmholtz eine überragende Rolle beim Ausbau des Hochschulwesens in Deutschland gespielt. Viele Wissenschaftler dieser Zeit haben Helmholtz als ihren geistigen Vater angesehen.
Schon bevor Helmholtz 1870 in die Preußische Akademie der Wissenschaften gewählt und eines ihrer herausragenden Mitglieder wurde, war er durch seine Freundschaft mit deren Ständigem Sekretar, dem Berliner Physiologen Emil du Bois-Reymond, und durch Veröffentlichungen in den Monatsberichten der Akademie mit dieser verbunden.
Hermann Ludwig Ferdinand Helmholtz wurde am 31. August 1821 in Potsdam geboren. Schon beim ersten Eindringen in die Physik auf dem Gymnasium seiner Heimatstadt fesselte ihn "vorzugsweise die geistige Bewältigung der uns anfangs fremd gegenüberstehenden Natur durch die logische Form des Gesetzes." Da aber die Physik als brotlose Kunst galt und seine Eltern sparsam leben mußten, studierte er nach Abschluß des Gymnasiums kostenlos Medizin am Friedrich-Wilhelms-Institut in Berlin, wofür er sich zu anschließendem achtjährigen Militärdienst verpflichten mußte. Hier geriet er bald unter den Einfluß des bedeutenden Physiologen Johannes Müller, bei dem er 1842 promoviert wurde.
In seiner Dissertation entdeckte er, daß die Nervenfasern aus den Ganglienzellen entspringen. Nach sechsjähriger Tätigkeit als Militärarzt - zwei Jahre wurden ihm erlassen - wurde der 27jährige Helmholtz als Anatomielehrer an die Berliner Kunstakademie berufen. Schon ein halbes Jahr später 1849, wurde er außerordentlicher Professor der Physiologie und bald darauf, 1851, Ordinarius in Königsberg. "Ein Universitätslehrer ist einer ungemein nützlichen Disziplin unterworfen, indem er alljährlich den ganzen Umfang seiner Wissenschaft so vortragen muß, daß er auch die hellen Köpfe unter seinen Zuhörern überzeugt", schrieb er rückblickend über seine dortige Lehrtätigkeit. Seine Erfolge trugen ihm weitere Rufe ein: 1855 ging er nach Bonn, schon drei Jahre später nach Heidelberg. Endlich holte ihn 1871 der preußische Kultusminister auf Betreiben Emil du Bois-Reymonds als Ordinarius für Physik nach Berlin zurück. Nochmals wurde sein Wirkungskreis erweitert: im März 1888 wurde ihm die Aufgabe übertragen, die Physikalisch-Technische-Reichsanstalt, eine neuartige Institution, die Grundlagenforschung mit Anwendungen verbinden sollte, aufzubauen.
Hermann von Helmholtz starb am 8. September 1894 in Berlin-Charlottenburg. Zu den vielen Ehrungen, die ihm zuteil geworden waren, gehörte der erbliche Adel und die Ehrenbürgerschaft seiner Geburtsstadt Potsdam. Nicht unpassend bezeichnete der Münchener Maler Franz von Lenbach, der Helmholtz oft porträtierte, diesen als den "Reichskanzler der Wissenschaft".
Die bekannteste wissenschaftliche Arbeit Helmholtz' bezog sich auf die Erhaltung der Energie. Daß es ein "Kraftmaß" gibt, das bei allen Naturvorgängen erhalten bleibt, war bereits von mehreren Forschern vermutet worden, insbesondere von dem einfallsreichen Schiffsarzt Julius Robert von Mayer, aber als allgemeines Naturgesetz klar herausgearbeitet wurde es erst von Helmholtz in seinem berühmt gewordenen Vortrag am 23. Juli 1847 vor der Physikalischen Gesellschaft zu Berlin. Darin zeigte er, wie bei den verschiedensten Vorgängen der Bewegung, Wärmeübertragung, elektrischen Leitung, bei Magnetwirkungen, Stoffumwandlungen, auch in Pflanzen und Tieren, zwar verschiedene Energieformen wie Bewegungsenergie, Wärme usw. ineinander umgewandelt werden, die Gesamtenergie aber stets erhalten bleibt. "Ich glaube", so endet sein Vortrag, "durch das Angeführte bewiesen zu haben, daß das besprochene Gesetz keiner der bisher bekannten Tatsachen widerspricht, von einer großen Zahl derselben aber bestätigt wird. Ich habe mich bemüht die Folgerungen möglichst vollständig aufzustellen, welche aus der Kombination desselben mit den bisher bekannten Gesetzen der Naturerscheinungen sich ergeben, und welche ihre Bestätigung durch das Experiment noch erwarten müssen. Der Zweck dieser Untersuchung, der mich zugleich wegen der hypothetischen Teile derselben entschuldigen mag, war, den Physikern in möglichster Vollständigkeit die theoretische, praktische und heuristische Wichtigkeit dieses Gesetzes darzulegen, dessen vollständige Bestätigung wohl als eine der Hauptaufgaben der nächsten Zukunft der Physik betrachtet werden muß." Diese Überlegungen wurden erst nach einigem Zögern von den physikalischen Autoritäten der Zeit anerkannt; allein der Mathematiker Jacobi stellte sich sogleich auf Helmholtz' Seite. Das Energieprinzip zog sich wie ein Leitfaden durch Helmholtz' Arbeiten. Die Beschränkungen, die der Entropiesatz der Umwandlung von Wärme in Arbeit auferlegt, führten Helmholtz später zur Einführung des besonders für das Verständnis chemischer Vorgänge wichtigen Begriffs der freien Energie.
Die Physik verdankt Helmholtz außerdem die Theorie der Wirbelbewegungen in Flüssigkeiten und eine lange Reihe von Untersuchungen über die Ausbreitung des Schalls und dessen Erzeugung in Musikinstrumenten. Mit seinem Werk "Die Lehre von den Tonempfindungen als physiologische Grundlage für die Theorie der Musik" wurde Helmholtz der Begründer der modernen musikalisch-akkustischen Forschung. Seine Untersuchungen über elektromagnetische Kräfte bahnten den Weg von den Fernwirkungsvorstellungen zu der Faraday-Maxwellschen Feldtheorie, der sein Lieblingsschüler Heinrich Hertz durch seine 1887/88 ausgeführten Arbeiten über die Erzeugung und Ausbreitung elektromagnetischer Wellen zum Durchbruch verhalf.
Anknüpfend an seinen Lehrer Johannes Müller hat Helmholtz an Beispielen gezeigt, wie Lebensvorgänge auf physikalisch-chemische Gesetze zurückgeführt werden können. So hat er ausführlich den Hörvorgang - die Mechanik der Gehörknöchelchen und des Trommelfells, die Schallschwingungen in der Schnecke des Ohres - sowie den Bau und die Funktion des Auges untersucht. Seine gefeierte Erfindung des Augenspiegels 1851 kam - nicht nur ihm - in mehrerer Hinsicht zugute. Einmal konnte er damit die lebende menschliche Netzhaut klar sehen und den Augenärzten ein wertvolles Hilfsmittel an die Hand geben, zum anderen führte sie dazu, daß er von nun an "bei Behörden und Fachgenossen bereitwilligste Anerkennung und Unterstützung" fand. Eine weitere aufsehenerregende Leistung Helmholtz', die seine Geschicklichkeit im Experimentieren bewies, war seine erstmalige Messung (1850) der Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Nervenerregung, die etwa 30 Meter pro Sekunde ergab, bis dahin war sie für unmeßbar groß gehalten worden.
Die Mathematik setzte Helmholtz nicht nur bei seinen physikalischen und physiologischen Untersuchungen als Hilfsmittel vielseitig ein; er bereicherte sie auch durch neue Sätze und Einfälle. Er zeigte zum Beispiel, wie man die Gesetze der Geometrie allein aus der Forderung der freien Beweglichkeit gewisser Figuren, die man als Modelle starrer Körper auffassen mag, ableiten kann, und ergänzte dadurch die erst kurz zuvor von Bernhard Riemann entworfene, allgemeine Geometrie gekrümmter Räume, die später in der Allgemeinen Relativitätstheorie Albert Einsteins ihre wichtigste Anwendung finden sollte.
Es überrascht nicht, daß ein so den durch Wahrnehmungen und Experimente ermittelbaren Tatsachen zugewandter Forscher wie Hermann von Helmholtz metaphysische Spekulationen ablehnte. Dementsprechend konzentrierten sich seine Beiträge zur Erkenntnistheorie auf die Frage, wie Vorstellungen und Begriffe, durch Sinneswahrnehmungen vermittelt, zustandekommen. Er faßte seine diesbezüglichen Gedanken einmal so zusammen: "Wenn unsere Sinnesempfindungen auch nur Zeichen sind, deren besondere Art ganz von unserer Organisation (unserem Sinnesapparat) abhängt, so sind sie doch nicht als leerer Schein zu verwerfen, sondern sie sind eben Zeichen von Etwas, sei es etwas Bestehendem oder Geschehendem, und was das Wichtigste ist, das Gesetz dieses Geschehens können sie uns abbilden."
Angesichts der immer weiter fortschreitenden Spezialisierung in den Naturwissenschaften und der aktuellen Tendenz, interdisziplinäre Arbeiten anzuregen und bevorzugt zu fördern, ist die Erinnerung an das Universalgenie Hermann von Helmholtz zeitgemäß und ermutigend.
Jürgen Ehlers
Am 17. September des Jahres 1721 mußte sich das Konzil der Societät - "unablässige klagen" waren vorangegangen - mit einer formellen "beschwerde" von Christfried Kirch, dem Sohn Maria Margaretha und Gottfried Kirchs, befassen. Christfried war seit 1716 Observator der Societät. Begonnen hatte dessen Ärger, als ihm von der Akademie der sehr viel ältere Mathematiker Johann Schütz als zweiter Observator zugeteilt wurde.
Anlaß für die Verstärkung des Personals war der mißliche Umstand, daß im Jahr 1720 die mathematischen Berechnungen für den von der Akademie herausgegebenen Kalender nicht rechtzeitig vorgelegen hatten. Da der Kalender die Haupteinnahmequelle der Akademie bildete, waren Wohl und Wehe eng mit der pünklichen Erledigung der Rechenarbeit verquickt. Friedrich von Jägwitz, Direktor der mathematischen Klasse, in deren Verantwortung die Kalenderproduktion lag, hielt es deshalb für geraten, dem Akademieastronomen Kirch personelle Unterstützung angedeihen zu lassen und beorderte Johann Schütz, einen Mathematiker ohne astronomische Kenntnisse, ins Observatorium. Sollte Jägwitz angenommen haben, nun werde schnell alles gut, hatte er sich gründlich verrechnet - denn bald schon hob des Chefastronomen vernehmliches Klagen über die mangelhaften astronomischen Kenntnisse des neuen Mitarbeiters an.
Dem mit der formellen Beschwerde befaßten Akademikonzil leuchteten die Gründe Kirchs auch durchaus ein, wenn es feststellte: "Mann könne Kirchen nicht wol verdenken, dass er schwierigkeit mache mit einem Collegen zu arbeiten, den er erst unterrichten müsse". Zu einer Änderung ist es gleichwohl nicht gekommen. Denn der im Jahr 1721 auch als Vizepräsident wirkende Jägwitz behielt mit der trockenen Versicherung die Oberhand, "die Astronomie sei zwar eine besondere wissenschaft, die wenigen bekannt, aber darum nichts so schweres dass sie als ein geheimniss müsste gehalten werden, und man sich damit so teuer halten wollte, weil sich ja weiber darin gefunden, hingegen die grössten Mathematici dieselbe übergangen."
Archiv BBAW, Sign.: I, IV; Nr. 7, Protokolle des Konzils, f. 28 f.
Spitzenforschung und gesellschaftliche Verantwortung
Am 12. Septemer 1897 wurde Irène Curie als Tochter von Pierre und Marie Curie in Paris geboren. In diesem Jahr begannen ihre Eltern mit der Erforschung der natürlichen Radioaktivität durch die Isolierung natürlicher radioaktiver Elemente.
Entsprechend früh wurde Irène durch ihre Mutter und bedeutende Freunde des Hauses im Privatunterricht an die aktuellen Fragen von Physik und Chemie herangeführt. Sehr einflußreich für ihr späteres außerwissenschaftliches Engagement war ihr Großvater, der als Mediziner wirkte. Im ersten Weltkrieg arbeitete sie als Röntgenassistentin in der französischen Armee. Bis 1920 studierte sie Physik und Mathematik an der Sorbonne. 1918 trat sie in das "Institut Radium" ein, das ihre Mutter leitete, und wurde dort zunächst deren persönliche Assistentin. 1925 vollendete sie ihre Promotion über die Eigenschaften der Alpha-Strahlung von Polonium, einem natürlich radioaktiven Element. In diesem Jahr trat Frédéric Joliot als Doktorand in das Institut ein und arbeitete in unmittelbarer Umgebung von Mutter und Tochter Curie. Am 9. Oktober 1926 heirateten Irène und Frédéric. Ab 1928 publizieren beide unter gemeinsamen Namen ihre wissenschaftlichen Werke.
In den folgenden Jahren widmeten Irène Curie und ihr Mann sich mit großem Elan der Untersuchung der Folgen der Bestrahlung von leichten chemischen Elementen wie Aluminium mit den Alpha Strahlen aus radioaktiven Präparaten. Durch eine einzigartige Symbiose von großem experimentellem Geschick, wohlüberlegten chemischen Experimenten und einem tiefgreifenden Verständnis der sich gerade stürmisch entwickelnden Atomphysik gelang Irène Curie der Nachweis der künstlichen Elementumwandlung leichter Elemente unter Alpha-Bestrahlung. Sie konnte durch chemische Analyse der Aufarbeitung von bestrahlten Aluminiumfolien die Entstehung kurzlebiger Isotope von Silizium und Phosphor nachweisen. Bald gelang auch die Herstellung von künstlichem "Radiostickstoff" aus Bor nach dem selben Verfahren. Mit diesen Entdeckungen hat Irène Curie den Urtraum aller Chemiker, die Umwandlung chemischer Elemente ineinander erstmals möglich gemacht. Die entstandenen kurzlebigen Produkte erwiesen sich als außerordentlich wertvoll für die Medizin und die Biologie. Durch radioaktive Markierung von Molekülen beispielsweise in Pharmazeutika kann man den Weg dieser Moleküle im lebenden Wesen verfolgen und so die Wirkungsweise des Moleküls analysieren. Durch die rasch abklingende Radioaktivität der Markierung (einige Minuten bis einige Stunden) entsteht für das Lebewesen eine nur sehr geringe Strahlenbelastung. Solche "radio assay"-Methoden sind heute ein fester Bestandteil medizinischer Diagnostik.
Die Berichte über die Transmutation chemischer Elemente mit Alpha-Strahlung erschienen 1932 bis 1934 in den Sitzungsberichten der französischen Akademie der Wissenschaften und in Kurzmitteilungen bei "Nature". Dadurch wurden die chemischen Ergebnisse schnell in der Gemeinde der Atomphysiker bekannt. Die Verbindung mit einer Arbeitsgruppe aus Cambridge (England) um J. Chadwick führte zur Entdeckung des Neutrons. Eine weitere Entdeckung der Curies wurde von Werner Heisenberg und Wolfgang Pauli theoretisch gedeutet. Sie fanden beim Zerfall von "Radiosilizium" die Emission von Neutronen und Positronen auch ohne Primäranregung durch Alphastrahlen und bewiesen damit die Hypothese des Beta-Zerfalls, einer radioaktiven Erscheinung, die in natürlichen Zerfallsprozessen auf der Erde nicht vorkommt.
Für die Transmutation chemischer Elemente mittels radiaoaktiver Strahlen erhielt das Ehepaar Joliot-Curie 1935 den Nobelpreis für Chemie. Durch diese Pionierleistung war das Arbeitsgebiet der künstlichen Radioaktivität und der Herstellung künstlicher Elemente geschaffen, das bis heute ein wichtiges Teilgebiet der Atomphysik darstellt. Mit diesem Arbeitsgebiet hatte sich die Tochter Irène wissenschaftlich gegenüber der Mutter Marie Curie profiliert, die sich mit der natürlichen Radioaktivität beschäftigte. Die Erarbeitung dieser wissenschaftlichen Eigenständigkeit gegenüber der Mutter und die Überwindung des Assistenten-Chef Verhältnisses waren wichtige Beweggründe für die Arbeit von Irène Curie. In beiden Generationen der Curies spielten die Ehemänner wesentliche Rollen bei der Erarbeitung der wissenschaftlichen Erfolge, die wohl ohne die jeweilige vertrauensvolle und entspannte Zusammenarbeit kaum möglich gewesen wären. Diese Form der Zusammenarbeit, die sich in der Gliederung des Nobelvortrages in zwei wissenschaftlich gleichwertige und eng miteinander verknüpfte Teile nachvollziehen läßt, hielt über ihr ganzes Leben an.
Die weitere wissenschaftliche Arbeit von Irène Curie galt der Untersuchung der energetischen Zusammenhänge der Transmutation. Mitte der 30er Jahre wurde ihr die konkrete Möglichkeit klar, aus Kernreaktionen ungeheure Mengen von Energie zu gewinnen. Sie und ihr Mann begannen in dieser Zeit, sich aktiv in der französischen Politik zu engagieren. Sie erkannten die zivilen Chancen und militärischen Gefahren ihrer Forschungen. Ihre Konsequenzen reichten von einem erwogenen Publikationsstop über staatliche Reglementierungen zu der Schlußfolgerung, daß nur ihre unmittelbare Einflußnahme als Experten auf die politischen und technischen Auswirkungen der Atomphysik Unheil verhindern könnte. Das Engagement in der Politik wurde mit dem Eintritt beider Curies in die Sozialistische Französische Partei und ihrer Mitarbeit im antifaschistischen Komitee der Intellektuellen 1934 und 1935 deutlich sichtbar. Irène Curie bekleidete in der Französischen Regierung von Leon Blum 1936 das Amt der Wissenschaftsministerin.
Mit der Entwicklung der Nazidikatatur stellten die Curies in den späten 30er Jahren die Publikation wichtiger Erkenntnisse über die Natur der Kettenreaktion bei der Atomspaltung ein. Am 30. Oktober 1939 hinterlegten sie eine Publikation zum Bauprinzip eines Kernreaktors bei der französischen Akademie der Wissenschaften. Als die Schrift 1949 bekannt wurde, stellte sich heraus, daß ihre Vorstellungen korrekt waren und die unmittelbare Veröffentlichung bereits zum damaligen Zeitpunkt zur Entwicklung eines funktionsfähigen Kernreaktors auch in Deutschland hätte führen können.
In dieser Zeit widmete sich Irène Curie neben der Wissenschaft auch intensiv der Erziehung ihrer beiden Kinder. Ihr Mann begann, den Nutzen der Radiochemie für medizinische Anwendungen zu studieren. Während der Besetzung Frankreichs durch Hitler blieben die Curies vor Ort. Die Gefangennahme und Exekution prominenter Wissenschaftlerkollegen durch die Nazis brachten die Curies dazu, eine politisch aktive Rolle bei Gründung und Operationen der französischen Widerstandsbewegung und in der französischen kommunistischen Partei zu spielen. Dieses Engagement reichte von der Führungsverantwortung ihres Mannes bis zur geheimen Herstellung von Sprengstoff im Gebäude des "Institut Radium", für das Irène damals bereits Verantwortung trug.
Nach dem 2. Weltkrieg, den die Familie körperlich unversehrt überstand, wurde Irène Curie Direktorin des Radium-Instituts ihrer Mutter, das sie bis zu ihrem Tode 1956 leitete. Ihr Mann wurde 1945 mit dem Aufbau und der Leitung der französischen Atomenergieforschung betreut. Seine Frau unterstützte ihn dabei nachhaltig und entscheidend.
In den 50er Jahren verschlechterte sich die Gesundheit von Irène kontinuierlich. Bis Mitte der 50er Jahre versuchte sie, durch Kuraufenthalte in der Schweiz dem Verfall zu begegnen. Am 17. März 1956 verstarb sie wie ihre Mutter an den Folgen von Leukämie. Bis kurz vor ihrem Tode war Irène wissenschaftlich und politisch aktiv und entscheidend an der Gründung eines Beschleunigerlabors in Orsay bei Paris beteiligt.
Irène Curie hinterläßt uns den Beweis, daß die Umwandlung chemischer Elemente ineinander mit physikalischen Methoden möglich ist. Ihre Entdeckung hat bis heute praktischen Nutzen. Ihr Forschungsansatz war damals bereits bewußt transdisziplinär und hat nachhaltige Wirkungen in der Physik wie in der Chemie hinterlassen. Beispielhaft war vor allem aber auch ihre klare Sicht der gesellschaftlichen Verantwortung des Wissenschaftlers. Diese Verantwortung zeigte sich in den teilweise persönlich gefährlichen politischen Engagements ebenso wie in der hohen Priorität, die sie den Belangen ihrer Familie einräumte.
Robert Schlögl
Auf der Tagung des Kartells der Deutschen Akademien der Wissenschaften am 20. Septem- ber 1923 in Bamberg wurde der Preußischen Akademie die Geschäftsführung der Deutschen Literaturzeitung übertragen. Die "Deutsche Literaturzeitung für Kritik der internationalen Wissenschaft" (DLZ) war ein Rezensionsorgan, das über die wichtigsten wissenschaftlichen Neuerscheinungen des In- und Auslandes berichtete. In einer Zeit, die längst disziplinär ausgerichtete Referateorgane kannte, die sich ausschließlich der Dokumentation des Fortschreiten der Erkentnisse in einem Spezialgebiet widmeten, versuchte die DLZ den Blick über die Fachgrenzen zu richten und dabei auch vor den staatlichen und sprachlichen Grenzen nicht haltzumachen.
DLZ
Der Herausgeber des vom Kartell 1880 gegründeten Rezensionsorgans, Paul Hinneberg, ein früherer Mitarbeiter des Ministerialdirektors Friedrich Althoff, behielt die Redaktion auch nach der Übernahme durch die Preußische Akademie als deren Beamter in den Händen. Zur Seite stand ihm ein aus hochrangigen Akademiemitgliedern bestehender Ausschuß unter Leitung des Germanisten Julius Petersen.
Ziel der Akademie war es, die DLZ zur führenden deutschen "Wochenschrift für Kritik der internationalen Wissenschaft" - so auch ihr Untertitel - zu machen. Die behandelten Rubriken umfaßten Allgemeinwissenschaftliches, Religion / Theologie / Kirche, Philosophie / Pädagogik, Sprache / Literatur / Kultur, Geschichte und deren Hilfswissenschaften, Erd-, Länder und Volkskunde, Bildende Kunst / Archäologie, Staat / Gesellschaft / Recht / Wirtschaft, Musik und Theatergeschichte sowie Mathematik / Naturwissenschaften / Medizin / Technik. Kernbestandteil war in den 20er und 30er Jahren die Reflexion der Akademie-Forschung von der Orientalistik und den Altertumswissenschaften über die neuzeitlichen Sprachwissenschaften bis hin zu naturwissenschaftlichen Grundlagendisziplinen. (1)
Seit Mitte der dreißiger Jahre tauchten unter den Beiträgen durchaus in Übereinstimmung mit den Prioritäten der nationalsozialistischen Wissenschaftspolitik vermehrt solche aus Rassenkunde und Vererbungslehre, Kolonialwissenschaft und Siedlungs- und Volkstumsforschung auf. Auch wurde das von Beginn an gegebene Ungleichgewicht zwischen den Geistes- und Naturwissenschaften immer stärker. Schließlich widmeten sich den Naturwissenschaften nurmehr gut 7% der Rezensionen.
Nachdem sich die Preußische Akademie 1946 als Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin neu konstituiert hatte, übernahm der neue Präsident die Herausgeberschaft der DLZ als Vorhaben "Kritische Besprechung der wissenschaftlich bedeutungsvollen Erscheinungen auf geisteswissenschaftlichem Gebiet". Damit war die Trennung von den Naturwissenschaften auch in der Zielsetzung vollzogen. Der Historiker Karl Griewank, Universität Jena, übernahm die Schriftleitung. In dieser auf die Geisteswissenschaften reduzierten Form wurde die Zeitschrift auch von der Akademie der Wissenschaften der DDR weiterbetrieben.
Die Wende überlebte die Zeitschrift nur kurz: Mit Heft 5/6 des 114. Bandes (1993) wurde das einst renommierte Rezensionsorgan eingestellt.
(1) Vgl. Bericht von Julius Petersen im Plenum der Akademie vom 24.1.1924, Sitzungsberichte der Akademie 1924, Berlin 1924:LXIV.
Wie die meisten Biologen der jüngeren Generation faszinierte auch Richard Hertwig der Gedanke Darwins, daß die Mannigfaltigkeit der Lebensformen auf der Erde durch die natürliche Abstammung zu erklären ist. In der Laudatio für seine Wahl zum Korrespondierenden Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften von 1898 wurde er zu den "Vorkämpfern der neueren Entwicklungslehre" gezählt. Zudem, so heißt es weiter, "zeichnet (er) sich durch Gründlichkeit der Untersuchung und scharfsinnige Schlussfolgerung aus". (1)
Besonders fruchtbar ist in seinem Forscherleben die Zusammenarbeit mit dem ein Jahr älteren Bruder Oskar gewesen, der als Professor für Anatomie an der Universität in Berlin und Direktor des II. Anatomischen Instituts bereits 1893 zum ordentlichen Mitglied der Akademie gewählt worden war. In ihren gemeinsamen Arbeiten hatten sie "den Organismus der Medusen und Aktinien studiert und dabei zunächst das bis dahin kaum gekannte Nervensystem dieser Tiere sowie deren schwierig zu erforschende Sinnesorgane kennen gelehrt, später auch die übrigen Organsysteme der Medusen genauer untersucht und hierdurch sowie besonders durch das Studium der Genitalorgane unsere Auffassung von der Bedeutung der Keimblätter wesentlich geklärt und gefördert.
Eine der wichtigsten Entdeckungen war die von seinem Bruder Oskar 1875 beschriebene Verschmelzung der Zellkerne von Samen- und Eizelle beim mediterranen Seeigel, an der er beteiligt war. Damit war - fast gleichzeitig wie bei Pflanzen durch E. Strasburger (1875) - der Grundvorgang der Befruchtung als Voraussetzung für das Verständnis der Generationenfolge der Organismen aufgeklärt. Die Einsicht in die weiteren ontogenetischen Vorgänge nach der Befruchtung gelang in relativ raschen Schritten durch die Entdeckung geeigneter Farbstoffe zur Markierung der betreffenden Strukturen. Richard Hertwig war - zum Teil mit seinem Bruder - auch methodisch beteiligt an der Entwicklung des Forschungsprogramms der Entwicklungsmechanik, das sich auf die 'kausale' Erforschung der ontogenetischen Entwicklungsprozesse konzentrierte. Er untersuchte die wichtige Rolle des Zellplasmas und des Zellkerns und führte künstliche Befruchtungen an Seeigeleiern aus. Durch die Behandlung von Seeigeleiern mit Strychnin konnte er Teilungsvorgänge in Zellkernen auslösen, also Versuche der künstlichen Parthenogenese induzieren.
Aus den Ergebnissen der mit seinem Bruder Oskar vor allem an den planktonisch räubernden Pfeilwürmern und Hohltieren gemachten anatomischen Untersuchungen formulierten sie in Korrektur der alten Keimblatttheorie 1881 ihre Coelom-Theorie. Danach wird die sekundäre Leibeshöhle (Coelem - Haeckel 1873), der vom Epithel umkleidete Hohlraum zwischen der Körperdecke und dem Darm der Metazoen, aus der mittleren Keimschicht (Mesoderm) gebildet. Durch Abwandung von Zellen, Furchung und Abfaltung bilden sich dann die Organe. Die Beurteilung der Entwicklungsvorgänge aus dem Coelom, und somit der Herkunft bestimmter Organe aus den jeweiligen Keimblättern erwiesen sich als wichtiges taxonomisches Kriterium in der Phylogeneseforschung." (2) Für die Verdienste bei der Entwicklung der experimentellen Biologie ehrte ihn die Preußische Akademie 1916 mit ihrer höchsten Auszeichnung, der Helmholtz-Medaille.
Trotz ihrer gemeinsamen erfolgreichen Forschungen waren sich die Brüder über manche Interpretation der Ergebnisse sowie die Bedeutung von Theorien nicht einig. Uneins war man etwa über Darwins Pangenesis-Hypothese, die der Ältere nach der von Carl Wilhem Nägeli, selbst Korrespondierendes Mitglied der Akademie seit 1874, für widerlegt hielt. Und während Richard seinem Lehrer Ernst Haeckel, dessen zoologisches Institut an der thüringischen Universitätsstadt Jena seit den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts zu einem Zentrum der neuen Phylogeneseforschung geworden war, stets verbunden blieb, kritisierte Oskar die öffentlichkeitswirksamen Versuche Haeckels, der Deszendenztheorie eine philosophisch-weltanschauliche Färbung zu geben.
Das hohe Ansehen, das Richard Hertwig zu seiner Zeit genoß, blieb freilich nicht auf die Angehörigen der wissenschaftlichen Forschergemeinschaft beschränkt. Geschätzt und verehrt wurde er auch vom Nachwuchs als Hochschullehrer und Lehrbuchautor. Sein Lehrbuch der Zoologie war weit verbreitet und bei den Studenten sehr beliebt; bereits zwei Jahre nach seinem Erscheinen im Jahre 1892 erreichte es die vierte Auflage. Bei Hertwigs Emeritierung im Jahre 1925 ehrten ihn 208 seiner früheren Studenten, von denen 117 Professoren der Zoologie geworden waren - darunter manche, die zwischenzeitlich selbst zu den Bekanntesten ihres Faches zählten.
(1) Laudatio für Richard Hertwig, Archiv der BBAW, Sign.: II-III, 128, Bl 111.
(2) A.a.O.: 111f.
(3) A.a.O.: 112
Der Kurator der Akademie Ewald Friedrich Graf von Hertzberg verkündete am 27. September 1792, daß "einige 40 Preisschriften" zur Frage eingegangen waren, ob die Koppelwirtschaft in Brandenburg eingeführt werden solle.(1)
Erfolgreich praktiziert wurde diese Form der Landbewirtschaftung bereits in Mecklenburg. Nun wollte es König Friedrich Wilhelm II. für die von ihm regierten Lande ganz genau wissen. Die Bereitstellung und Reflexion des lokalen empirischen Wissens war ihm ein Extrapreisgeld von 100 Dukaten aus der Staatskasse wert, die den von der Akademie ausgesetzten 50 Dukaten zugefügt wurden. Das große Echo und die rege Beteiligung vor allem von gebildeten Landwirten, Gutsbesitzern und Pächtern überrascht also nicht, versprach eine richtige Antwort auf die Preisfrage doch nicht nur das wirtschaftliche Wohlergehen des Landesherrn zu fördern, sondern auch das einer Vielzahl seiner 'Untertanen'.
Die Mehrzahl der eingesandten Preisschriften sprach sich entschieden für die Einführung der Koppelwirtschaft in Brandenburg aus. Wie in allen Fällen des richtigen Lebens, wo von den lokalen und historischen Eigenheiten nicht abstrahiert werden kann, haben freilich einige "das Gegenteil mit guten und nicht verwerflichen Gründen" behauptet.(2) Gleichwohl wurde das Ziel der Frage erreicht: König und Akademie hatten erfahren, unter welchen konkreten Umständen die Einführung der Koppelwirtschaft profitabel zu werden versprach und welche Gegebenheiten dagegenstanden. Die Physikalische Klasse der Akademie entschied sich deshalb ebenso wissenschaftlich wie ökonomisch klug, den Preis von 100 Dukaten zu zwei gleichen Teilen zu vergeben.
Den 1. Preis erhielt der Kriegsrat und Geheime expedierende Sekretär im Oberkriegskollegium Friedrich Wilhelm Dreye, weil er "mit vielem Scharfsinn und guter ökonomischer Kenntnis, besonders durch bestimmte und gut ausgearbeitete Berechnungen und Tabellen, gezeigt, unter welchen Umständen die Koppelwirtschaft in der Mark Brandenburg nützlich und anwendbar sein könne."(3) Der 2. Preis wurde Karl August Hubert, dem Amtsrat und Generalpächter des Amtes Zossen und des "Prinzlichen Ordensamtes Friedland in der Lausitz", zugesprochen, weil in seiner Abhandlung "mit vieler Gründlichkeit gezeigt worden, daß eine allgemeine oder zu große Einführung der Koppelwirtschaft dem Kornbau sowohl als der Bevölkerung in der Mark Brandenburg nachteilig sein könne und werde."(4)
Indem sie die Vor- und Nachteile der Koppelwirtschaft in Abhängigkeit von Standortbedingungen, Produtionsmethode und Betriebsgröße durch eine Analyse des vorhandenen Erfahrungswissens darlegten, trugen die Preisschriften wesentlich dazu bei, Entscheidungen über das jeweils günstigste landwirtschaftliche Nutzungssystem an differenzierten rationalen Kriterien orientieren zu können.
(1) Vgl.: Hans-Heinrich Müller, Akademie und Wirtschaft im 18. Jahrhundert. Die Preisschriften der Berliner Akademie, Berlin 1975:232.
(2) Ibid:233
(3) Zwei Preisschriften über die von der Königl. Akademie der Wissenschaften zu Berlin aufgegebene Frage: Von der Anwendbarkeit, dem Nutzen oder die Schädlichkeit der Koppelwirtschaft in der Mark Brandenburg, Berlin 1793, S. II f.
(4) Ibid.
Newtons Vorkämpfer in Frankreich
"Von der Parteiengunst und Haß verwirrt, schwankt sein Charakterbild in der Geschichte": Schillers Wort aus dem Prolog zu "Wallensteins Lager" paßt durchaus auch auf den französischen Philosophen, Mathematiker und Naturwissenschaftler Pierre Louis Moreau de Maupertuis.
Dieser war unter Friedrich II. von 1746 bis zu seinem Tode im Jahre 1759 Präsident der Académie Royale des Sciences et Belles Lettres de Berlin, wie die vom König 1744 reorganisierte Berliner Akademie der Wissenschaften genannt wurde.
Maupertuis wurde am 28. September 1698 in dem kleinen bretonischen Ort St. Malo in Nordfrankreich als Sproß einer alteingesessenen, adligen Familie geboren. Zunächst studierte er cartesianische Philosophie und Musik in Paris; eine Offizierslaufbahn brach er bald zugunsten einer Beschäftigung mit Mathematik und Naturwissenschaften ab. Bereits 1723 wurde er zum Mitglied der Pariser Académie des Sciences gewählt, 1743 sollte die Mitgliedschaft in der Académie Française folgen.
Von größtem Einfluß auf seine weiteren wissenschaftlichen Überzeugungen wurde seine Reise nach London im Jahre 1728. Dort wurde er in die Royal Society gewählt und zum glühenden Anhänger der Newtonischen Mechanik, der er auch im Pariser Geistesleben gegen den dort vertretenen Cartesianismus zum Durchbruch verhelfen wollte. Diesem Zweck dienten seine Schriften über die verschiedenen Gestalten der Sterne und die Gestalt der Erde. Sie festigten seinen Ruf als führender Newtonianer des Kontinents; auch verschafften sie ihm die Bekanntschaft und Freundschaft von Voltaire und dessen Freundin, der Marquise du Châtelet, denen er die neue Lehre nahebrachte.
Tatsächlich gab es um 1730 einen wissenschaftlichen Streit um die wahre Gestalt der Erde, die keine vollkommene Kugel war. Die in Paris tätigen, dem Cartesianismus nahestehenden Astronomen Jean-Dominique und Jacques Cassini glaubten, durch geodätische Messungen nachgewiesen zu haben, daß die Erde an den Polen zugespitzt sei. Aus Newtons Gravitationstheorie ergab sich jedoch umgekehrt eine Abplattung an den Polen. Die meßtechnische Entscheidung setzte eine äquatornahe und eine polnahe Messung voraus. Die entsprechenden zwei Expeditionen nach Peru bzw. Lappland wurden von der Pariser Akademie organisiert. Maupertuis wurde mit der Leitung der Expedition zum nördlichen Polarkreis beauftragt, von der er 1737 nach über einem Jahr geodätischen Arbeitens unter schwierigsten klimatischen Bedingungen erfolgreich zurückkehrte. Newton hatte recht behalten. Das hier wiedergegebene Bild von 1744 zeigt Maupertuis in Siegerpose: In der Kleidung eines Lappländers preßt er die linke flache Hand gegen den Globus, als ob er ihn zusammendrücke. Voltaire kommentierte spitz, Maupertuis habe die Pole und die Cassinis platt gemacht. Sein 1738 erschienener Expeditionsbericht wurde alsbald von dem mit ihm befreundeten Juristen und Mathematiker Samuel König ins Deutsche übersetzt. Die schwere Auseinandersetzung mit dem 14 Jahre jüngeren Freund lag noch in ferner Zukunft.
Als Friedrich II. 1745 Maupertuis nach Berlin holte, um ihm im folgenden Jahr die Präsidentschaft der Akademie zu übertragen, kam ein zwar des Deutschen nicht mächtiger, aber geistreicher, international berühmter und geehrter Naturwissenschaftler, der sich soeben zu wichtigen biologischen und naturphilosophischen Fragen geäußert hatte. Diese Themen verfolgte er während seiner Berliner Zeit weiter.
Seine biologischen Arbeiten ließen ihn zum Vorläufer der Genetik und Evolutionstheorie werden. Zu seiner Zeit herrschte die Präformationstheorie, um die Entwicklung von Organismen zu erklären. Danach waren entweder in den Ei- oder den Samenzellen alle Lebewesen fertig vorgebildet (präformiert), so daß sie sich nach der Befruchtung nur noch entfalteten. Maupertuis lehnte diese Theorie zugunsten einer epigenetischen Theorie ab, nach der sich jeder Organismus durch aufeinanderfolgende Neubildungen entwickelte. Unter Zuhilfenahme empirischer Befunde im Falle von Sechsfingrigkeit bzw. Mulatten entwickelte er seine "pangenetische" Theorie, die die gleichwertige Rolle von Männchen und Weibchen bei der Befruchtung unterstrich. Sie beruhte auf dem Prinzip der Anziehung und Abstoßung der Teile zur Bildung des Fötus. Seine Erbpartikel wiesen auf den Begriff der Gene voraus. Ihre mangelhafte oder überstarke Anziehung führe zu Mißgeburten. Ähnlich wie Gregor Mendel 100 Jahre später wandte Maupertuis die Mathematik auf genetische Fragen an, indem er die Wahrscheinlichkeit berechnete, daß bestimmte Merkmale (Sechsfingrigkeit) nur sporadisch auftreten, also nicht wirklich vererbt sind. In seinen späteren Werken nahm er Teile an, mit denen Eigenschaften wie Begierde, Abneigung, Gedächtnis verbunden sind, von Diderot als verführerischste Art des Materialismus charakterisiert. Aber es war eine Lehre von beseelter, mit Empfindung und Begehrung begabter Materie. Maupertuis erweiterte den Begriff der Materie dahingehend, daß dieser die Grundtatsachen des Bewußtseins in sich enthielt. In seinem "Versuch über die Moralphilosophie" versuchte er eine Synthese aus Psychologie und Mathematik, empirischer Beobachtung und begrifflicher Analyse. Er entwickelte einen Kalkül der Empfindung und des Gefühls mit dem pessimistischen Ergebnis, daß die Summe der Übel stets die des Guten übersteigt. Seine letzten acht, von Demütigungen und Krankheit gekennzeichneten Lebensjahre mußten auf ihn wie ein Beweis für die Richtigkeit dieses Kalküls wirken.
Er hatte sich seit 1740 für Extremalprinzipien in der Natur interessiert und sechs Jahre später in Berlin das universelle "Prinzip der kleinsten Aktion" verkündet, wobei er unter Aktion das Produkt aus der Masse der Körper, deren Geschwindigkeit und der durchlaufenen Strecke verstand: "Tritt in der Natur irgendeine Änderung ein, so ist die für diese Änderung nötige Aktionsmenge die kleinstmögliche". Sein metaphysisches Prinzip hielt Maupertuis für seine größte Leistung, doch überschätzte er dessen Bedeutung bei weitem. Auch bot es Anlaß zur Kritik, an der sich Samuel König 1751 mit einer Schrift unter Hinweis auf Leibnizsche Gedanken beteiligte. Maupertuis reagierte zutiefst empört. Der eskalierende Streit verließ schnell die inhaltliche Auseinandersetzung und konzentrierte sich auf die Echtheit eines Leibnizbriefes. Die Akademie erklärte diesen für eine Fälschung, eine unverzeihliche Anmaßung. König verließ aus Protest die Akademie. Während Friedrich II. und - wider besseres Wissen - Euler Partei für Maupertuis ergriff, tat dies Voltaire für Samuel König und machte Maupertuis durch beißendste Satiren in der Gelehrtenwelt lächerlich. Maupertuis verließ Berlin, krank und unglücklich, und starb am 27. Juli 1759 in Basel.
Eberhard Knobloch