Am 27. März des Jahres 1828 begann Alexander von Humboldt seine öffentlichen Vorlesungen über die "Physikalische Geographie" im großen Saal der Berliner Singakademie, dem heutigen Maxim-Gorki-Theater, nachdem er bereits im Jahr zuvor mit großem Erfolg in der Berliner Universität über die kosmischen Körper, die Bestandteile des Planetensystems, die Größenverhältnisse im Weltall und auf der Erde sowie über die Gestalt der Erde gelesen hatte. Zu den "Kosmosvorlesungen" in der Singakademie traf sich nicht nur die Berliner Gebildetenszene. "Das soziale Spektrum der Hörer Humboldts reichte vom Maurermeister bis zu König Friedrich Wilhelm III. - eine soziale Mischung, die in dieser Breite zuvor kein anderer deutscher Gelehrter erreicht hatte." (1)
Publikum und Autor waren offenkundig von der Kulturbedeutung der Naturwissenschaft überzeugt und suchten ein gemeinsames Verständnis. Freilich tat die Person Alexander von Humboldt ein übriges. Er besaß nicht nur ein außerordentliches Talent für die allgemeinverständliche Darstellung wissenschaftlicher Sachverhalte, sondern sein Auftreten scheint besonders auf das weibliche Publikum eine bemerkenswerte Anziehungskraft ausgeübt haben. Zu jeder der eintrittsfreien insgesamt 16 Vorlesung erschienen um die 800 Zuhörer, "darunter auffallend viele Frauen" (2) - ein echtes event also.
Wer nachlesen möchte, was zu hören gewesen ist, nehme zur Hand: Humboldt über das Universum, Frankfurt/M. & Leipzig 1993.
1) Alexander von Humboldt über das Universum. Die Kosmosvorträge 1827/28 in der Berliner Singakademie, hrsg. v. Jürgen Hamel & Klaus-Harro Tiemann in Zusammenarbeit mit Martin Pape, Frankfurt/M. u. Leipzig 1993:11.
2) Ibid.
Am Gendarmenmarkt angekommen
Am 31. März 1949 wird der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin durch die Kulturverordnung das Gebäude der ehemaligen Preussischen Seehandlung in der Jägerstraße 22/23 zur Unterbringung der Akademieleitung, des Plenums, der Klassen, der Akademieverwaltung und einer Reihe von geisteswissenschaftlichen Einrichtungen übereignet. Im August 1949 begann der Umzug aus den Räumen Unter den Linden in das neue Gebäude.
Am 15. Mai 1898 gründete der 28jährige Nervenarzt Oskar Vogt aus den Einkünften seiner vornehmlich psychotherapeutischen Tätigkeit - z.B. auch seiner Privatpatientin Bertha Krupp von Bohlen und Halbach - in einer Berliner Privatwohnung eine "Neurologische Zentralstation". Er wollte damit ein Forschungsinstitut zur "Vertiefung der Anatomie und Physiologie des Gehirns als eine der wichtigsten Aufgaben des neuen Jahrhunderts" schaffen; mit diesem Schritt hat er der Institutionalisierung der Hirnforschung den Weg bereitet.
1899 heiratete der 1870 in Husum geborene Oskar die aus Annécy stammende Französin Cécile Mugnier (1875 - 1962), die er als Doktorandin des berühmten Neurologen Pierre Marie während seines Studiums der hirnanatomischen Arbeiten des ebenso bedeutenden Forscherehepaares Déjerine-Klumpke in Paris kennengelernt hatte. In den folgenden 60 Jahren, bis zum Tode von Oskar Vogt am 31.7.1959, hat das kongeniale Paar die meisten Entdeckungen gemeinsam publiziert und auch Ehrungen meist gemeinsam empfangen: 1950 wurden sie zu Ehrenmitgliedern der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin gewählt. Von beiden wissenschaftlich tätigen Töchtern wurde die in Cambridge tätige Marthe durch ihre Untersuchungen zur Chemie und Pharmakologie des Gehirns ebenfalls weltberühmt.
Oskar Vogt war schon als Schüler weitgespannt wißbegierig. So baute er die größte Sammlung von Hummeln auf, um aus deren Vielfalt Aufschlüsse über die Entwicklung der Arten zu erhalten; und aus seinem Interesse für (sozial-)psychologische Fragen entstand der Wunsch, aus der empirischen Hirnforschung Aufschlüsse über die seelischen Erscheinungen und ihre krankhaften Störungen zu gewinnen. Diesen beiden Themenkreisen blieb er sehr zielstrebig zeitlebens treu.
Mit 18 Jahren begann er in Kiel Psychologie und Philosophie zu studieren, wechselte bald zum Studium der Medizin, das er 1890 in Jena fortsetzte, wo er nach dem Staatsexamen 1893 in die Psychiatrie zu Binswanger ging und 1894 über die stammesgeschichtliche Entwicklung von Faserverbindungen im Gehirn promovierte. Bei dem Zürcher Psychiater (und Ameisenforscher) Forel erlernte er die Hypnose, die er von allen mystischen Verbrämungen befreite, theoretisch zum Vorläufer des autogenen Trainings weiterentwickelte und erfolgreich therapeutisch anwandte. Zwischenzeitlich war er 1894 kurz bei Flechsig, dem berühmten Leipziger Hirnforscher, dessen Lehre die Vogts später konstruktiv kritisierten, u.a. mit der 1900 vorgelegten Dissertation von Cècile Vogt: "Étude sur la myélinisation des hémishères cérébraux".
Mit der Gründung der "Neurologischen Zentralstation" begann in Berlin die Institutionalisierung der Hirnforschung. Sie wurde 1902 durch die Anbindung an die Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin als "Neuro-Biologisches Laboratorium der Universität" sowie die 1915 erfolgte Eingliederung in die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, der heutigen Max-Planck-Gesellschaft, gesichert und schließlich 1930 durch den von der Rockefeller-Foundation wesentlich finanzierten Neubau des Kaiser-Wilhelm-Institutes für Hirnforschung in Berlin-Buch in unmittelbarer Nachbarschaft der dort gelegenen III. Heil- und Pflegeanstalt (III. Irrenanstalt) - jetzt zum Max Delbrück Centrum für Molekulare Medizin gehörend - vorerst vollendet.
Die Struktur dieses weltweit ersten Hirnforschungsinstitutes war mit seiner Verbindung von reichgegliederter Grundlagenforschung und Klinik richtungsweisend. An ihm orientierten sich etwa die später eingerichteten neurowissenschaftlichen Forschungsinstitute in Bethesda (USA) oder auch das im Auftrag der Sowjetregierung und mit starker Befürwortung der Deutschen Reichsregierung 1925 von Oskar Vogt gegründete Staatsinstitut für Hirnforschung in Moskau, dessen erste zentrale Aufgabe die Untersuchung von Lenins Gehirn war. In einem für Laien bestimmten Vortrag im "Pantheon der Gehirne" des Moskauer Hirnforschungsinstituts beschrieb Oskar Vogt von ihm in solcher Größe und Zahl noch nie beobachtete Pyramidenzellen der dritten Hirnrindenschicht. Seine vorläufigen Untersuchungsergebnisse über Lenins Gehirn faßte er in dem Satz zusammen: "Aus allen diesen Gründen läßt unser hirnanatomischer Befund Lenin als einen Assoziationsathleten erkennen."
Diese Forschungstätigkeit und das bis 1930 anhaltende Direktorat des Moskauer Institutes, sein Eintreten für jüdische Mitarbeiter wie auch eine Auseinandersetzung mit Goebbels führten dazu, daß er 1935 aus der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft ausscheiden mußte. Dank großer Zuwendungen durch die Familie Krupp von Bohlen und Halbach konnte er 1937 ein neues Hirnforschungsinstitut in Neustadt im Schwarzwald aufbauen.
All diese Institutsgründungen waren nicht nur organisatorisch bedeutende Leistungen. In der reich gegliederten Institutsstruktur kam auch eine moderne Konzeption zum Ausdruck, die den Rahmen für eine kontinuierliche empirische Erforschung der Hirnstruktur und ihrer Bedeutung für die Hirnfunktion herstellte. So stammte aus der genetischen Abteilung unter der Leitung des russischen Genetikers Nikolai W. Timoféef-Ressovsky eine von diesem 1935 gemeinsam mit dem Physiker Max Delbrück verfaßte, für die moderne Molekulargenetik grundlegende Arbeit.
Die Untersuchungen zur Zell- und Faser-Architektur (Cyto- und Myelo-Architektonik) des normalen Gehirns sollten Grundlagen für die Arbeiten der physiologischen Abteilung zur Funktionsweise des Gehirns sowie für die Erkennung krankhafter Abweichungen in der histologischen Abteilung liefern. Die chemische Abteilung sollte das besondere Verhalten einzelner, durch die architektonischen Gliederungsergebnisse der anatomischen Abteilung anhand von Unterschieden der Reifungsgeschwindigkeit der Nervenfaserhüllen, der Struktur, Schichtung und Anfärbbarkeit sowie der Reaktion auf elektrische Reizungen definierten "topistischen Einheiten" des Gehirns gegenüber bestimmten Pharmaka aufdecken und damit chemo-therapeutische Maßnahmen anbahnen. Die topistischen Einheiten wurden als Neuronensysteme angesehen, die jeweils durch spezifische Krankheitsanfälligkeit ("Pathoklise") charakterisierbar seien. Als Beispiel galt den Vogts ein umschriebener Nervenzelluntergang in einem in der Hirnmitte liegenden Nervenzellenkern (die symmetrisch elektive Nekrose im Pallidum) nach Kohlenoxidvergiftung mit der Folge einer Parkinson-ähnlichen Erkrankung.
Die eigenen Forschungsergebnisse zur Architektonik der Großhirnrinde mit einer Vielzahl von anatomisch anhand unterschiedlicher Struktur, Schichtung und Anfärbbarkeit der Nervenzellen sowie funktional mittels der Reaktion auf elektrische Reizungen scharf gegeneinander abgrenzbaren Arealen wurden in einem ersten Hauptwerk "Allgemeinere Ergebnisse unserer Hirnforschung" 1919 zusammengefaßt. Nachdem Cécile Vogt bereits 1909 mit ihrer Thalamusmonographie die Grundlage für die gesamte moderne Erforschung dieser auch als Sehhügel bekannten großen Nervenzellmasse in der Hirnmitte geschaffen hatte, publizierten die Vogts 1920 ihr großes Werk über die krankhaften Veränderungen des von ihnen so genannten striären Systems, einem ebenfalls in der Hirnmitte gelegenen Komplex von Nervenzellen, die vor allem die Bewegungen regulieren.
Im Schwarzwälder Institut standen dann Untersuchungen zu krankhaften Nervenzellveränderungen (Cytopathologie) bei Schizophrenie und zum Altern der Nervenzellen im Vordergrund. Die Befunde von Schwundzellen und kleinen Zellückenherden ohne Gliareaktion im Stirn- und Schläfenlappen des Gehirns von schizophren Kranken sind wichtige Vorläufer der aktuellen Schizophrenieforschung. Die Untersuchungen zum Altern führten zur Annahme eines sowohl genetisch wie auch durch Nichtnutzung bedingten vorzeitigen Absterbens bestimmter Nervenzellarten (System-Involution) sowie zu dem Schluß "Untätigkeit beschleunigt das Altern, Tätigkeit verzögert das Altern".
Die Berliner Hirnforschung verlor vor über 40 Jahren einen ihrer Großen. Oskar Vogt starb am 31. Juli 1959 im Alter von 89 Jahren in Freiburg im Schwarzwald.
Hanfried Helmchen
Mögen auch manche Beobachter späterer Zeiten die Wissenschaftler vornehmlich in einem Elfenbeinturm gesichtet haben, Leibniz ist solcher Unterkunft nicht verdächtig. Mit der Zusage, die Arbeiten der Societät "ohne Abgang der Churfürstlichen Intraden" zu finanzieren, hatte er sich in keine beneidenswerte Lage gebracht. Ständig war er auf der Suche nach neuen Geldquellen. Ein für die Steigerung des Akademiehaushaltes besonders nützliches Besteuerungsprojekt schlägt er dem König 1711 allerdings vergebens vor:
"Alldieweil man sowohl in der Chymie, alss auch bey Sammlung eines Cabinets und der Conservation in Liquido nach jetzigem Gebrauch des Brandtweins nicht ermangeln kan, und aber dergleichen von Jedwedem wer da will, auch so viel alss er will, gemacht werden kan, wann er nur die Cise und Accise vor dem Getraide erleget, ... man bey Sr. Königl. Mt ausbäte einen gantz kleinen Impost annuatim auff jede Brandteweins-Blase zu legen, welches unmassgeblich ½ Thlr. sein köndte."
( G. W. Leibniz, Antrag auf Besteuerung des Branntwein-Brennens zu Gunsten der Berliner Societät, in: A. Harnack, Geschichte der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Berlin 1900, II:220)
Landkarten und Edicte als Einnahmequellen
Neben dem Kalenderprivileg als Haupteinnahmequelle bestritt die Akademie ihre Ausgaben auch aus dem Privileg "über den privativen Verlag und Stempelung tüchtiger Landkarten, und dass alle in Gebrauch kommenden Karten mit dem Stempel der Akademie zu versehen seien." So gab die Akademie noch 1748 einen aus vier Blättern bestehenden großen Plan von Berlin heraus, später einen 44-seitigen Schulatlas, Seekarten und Darstellungen der Gestalt der Erde, die aus Unternehmungen in Frankreich, Peru, Lappland und dem Kap der guten Hoffnung entstanden waren. Größere Erträge brachte das Kartenprivileg jedoch ebensowenig ein wie der Verlag der Sammlung von Landesgesetzen (Edicte, Rescripte, Mandate und Verordnungen), die von Richtern, Advokaten und Verwaltungsbeamten als Arbeitsmaterial angeschafft werden mußten.
Über den 1640 im südfranzösischen Nîmes geborenen Etienne Chauvin weiß die zeitgenössische Wissenschaft nicht viel zu sagen; er ist nahezu vergessen. Leicht hat er es dem Gedächtnis der Nachgeborenen allerdings auch nicht gemacht. Chauvin schrieb nur ein einziges großes Buch, und was sich darin findet, war modern - am Ausgang der frühen Neuzeit.
Sein 1692 erschienenes Lexicon rationale sive thesaurus philosophicus ordine alphabetico digestus, wegen der großen Nachfrage überarbeitet 1713 noch einmal unter dem Titel Lexicon Philosophicum aufgelegt, hat "zu seiner Zeit Epoche gemacht" (1). Wie viele enzyklopädische Sammlungen des Weltwissens dieser Zeit, kodifiziert Chauvin für den schnellen Zugriff des Lesers das philosophische Wissen in alphabetischer Ordnung. Neu sind viele Kenntnisse und sein Vorgehen.
In gängiger scholastischer Manier notiert er zunächst, was die Alten - antike und christliche Schriftsteller gleichermaßen - meinten. Im Anschluß hieran wird mitgeteilt, oft eingeleitet durch ein selbstbewußtes "contra autem dico", was die Neueren zu sagen haben und es werden Übereinstimmung und Dissens markiert. Als Erz-Cartesianer, der sich bemüht, das naturwissenschaftliche Wissen seiner Zeit wiederzugeben, füllt er so Spalte um Spalte. Die in den Künsten berühmt gewordene 'Querelle des Ançiens et des Modernes' wird bei Chauvin in jedem einzelnen Artikel ausgetragen; freilich im Bewußtsein, man kenne die 'wirklichen Ursachen' der Dinge nun einfach genauer oder beschäftige sich in wissenschaftlicher, auf Experimente gegründete Weise zum ersten mal mit vielen Gegenständen.
Das Lexicon Philosophicum bildete an der Wende des 18. Jahrhunderts ein Kompendium der cartesianischen Philosophie und Naturwissenschaft. Als solches allenthalben hoch geschätzt und gelesen, brachte es seinem Autor jenen Ruhm ein, der ihn über Rotterdam, wohin der Protestant nach der Aufhebung des Ediktes von Nantes geflohen war, nach Berlin führte. Vom Kurfürsten 1695 zum Hauptprediger der französisch reformierten Gemeinde sowie Philosphieprofessor und Inspektor an das Collège français berufen, gehörte er der städtischen Intelligenz an, die Zugang zum Hofe hatte. Sicher erleichterte ihm diese Stellung die Arbeit am schon in Rotterdam begonnenen Nouveau Journal des Savants dressé à Berlin, von dem vier Folgen erschienen sind. Über die Publikation des Journals ergaben sich erste briefliche Verbindungen zu Leibniz. Vor diesem lebensgeschichtlichen Hintergrund erscheint es fast zwangsläufig, daß Chauvin zu jenen 'treuen Churfürstlichen Bedienten' (Jablonski) zählte, die dem König im März 1700 den Plan zur Gründung einer Akademie der Wissenschaften überreicht haben (2).
Wie wertvoll das Gründungsmitglied in der medizinisch-physikalischen Klasse der Societät gewesen ist, läßt sich schwer sagen. Durch Harnack wissen wir immerhin, daß der an einem schnellen öffentlichen Ausweis wissenschaftlicher Leistungsfähigkeit interessierte Akademiepräsident den von Chauvin zur Veröffentlichung im ersten Band der Miscellanea eingereichten Beitrag abgelehnt hat. Die nach vielen Querelen um die Finanzierung schließlich 1710 erschienene Publikation enthält unter dem Titel Nova circa Vapores Hypothesis eine Fassung, die auf Leibniz' Intervention hin verbessert worden war. Über die Wirkung des Sammelbandbeitrages ist nichts bekannt. Wir wissen auch nicht, was der archivalisch verbürgte Hinweis, allein Chauvin habe mit der unter Mühen und Kosten aus Holland herbeigeschafften Luftpumpe umzugehen gewußt (3), über die Naturwissenschaftler an der Akademie aussagt. Jedenfalls hat die Kenntnis im Umgang mit diesem wissenschaftlichen Instrument nicht verhindert, daß Chauvin, fast achtzigjährig, von einigen Klassenkollegen den "Literaten" zugerechnet und als unsolide und unnütz verspottet wurde (4).
Das Veränderungstempo der naturwissenschaftlichen Theorien und Verfahren hat offenkundig die Kenntnisse und Fertigkeiten dieses Philosophen fast noch zu Lebzeiten veralten lassen. Als er 1725 starb, galt dies auch für die Idee, ein einzelner Gelehrter könne ein Lexikons der Philophie verfassen, in dem die naturwissenschaftliche Thematik dominiert und der Stand der Dinge eingearbeitet ist. Das Licht des Zeitalters war weitergezogen. Der Nachwelt ist Etienne Chauvin weitgehend unbekannt - und wird es wohl bleiben als einer der vielen, die etwas für ihre Zeit Bedeutendes geleistet haben.
(1) Lutz Geldsetzer, Vorwort zum Neudruck, in: Stephanus Chauvin, Lexicon Philosophicum, Düsseldorf 1967 Photomech. Nachdruck der 2. Aufl. Leeuwarden 1713 (1692)
(2) Vgl. A.v.Harnack, Geschichte der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, 3 Bde, Berlin 1900, Bd. I,1:73ff.
(3) A.a.O.:185.
(4) A.a.O.:237
Nach dem Tode ihrers Mannes, des Astronomen Gottfried Kirch, im Jahr 1710 hatte Maria Margaretha - 1702 Entdeckerin eines Kometen, Publizistin mehrerer astronomischer Schriften und Bearbeiterin eines großen Teiles des Kalenderwerks, mit dem die Societät sich finanzierte - mancherlei Streit mit der akademischen Männergesellschaft zu bestehen.
Wiewohl Kurfürstin Sophie gegenüber von Leibniz für ihre wissenschaftlichen Leistungen hoch gelobt, gelang es Maria Kirch nicht, die Nachfolge ihres Mannes in der Societät anzutreten. Mehrere Gesuche, ihr wenn schon nicht die Verantwortung für das Kalenderwesen zu übertragen, doch wenigstens die Stelle eines 'astronomus adiunctus' zu verschaffen, blieben erfolglos. Stattdessen berief die Societät J. G. Hoffmann als Nachfolger. Die Beziehung beider war naturgemäß nicht störungsfrei. Hoffmann wurde sogar offiziell gerügt: "Der Frau Kirch Hülfe hat er sich, wie sie sagt, zwar heimlich bedienet, öffentlich aber allezeit dawider gesprochen, sie auch niemals auf das Observatorium lassen wollen" (1).
Im Oktober 1712 bezog sie das Observatorium schließlich doch und setzte ihre Beobachtungen fort.
Allerdings suchte man ständig nach Anlässen, sie aus dem Observatorium zu vertreiben. Der "Vicepres. ... Berichtet, wie die Fr. Kirchin zwar anstalt mache, nach Hamburg zu reisen, gedenke aber in Kurzem wieder zu kommen, und wolle zu dem end ihre sachen auf dem Hofe stehen laßen. Ob solches zu dulden?" Das Concilium der Societät beschließt: "Um allen denen ungleichen Urtheilen und Nachreden, so der aufenthalt dieser Frauen im Societaet Hof verursachet, auf einmal zu begenen, wird allerdings nötig sein, daß daraus geschaffet werde, und ihr den raum zu benehmen, wäre zu überlegen, ob nicht [der Factor und Buchhändler der Societät] Papen auf eine Zeit lang noch daselbst zu laßen, und die übrige Wohnung unter die beiden Observatores dergestalt zu teilen, damit sie dieselbe ganz erfüllen. Es könnte H. Kirch die Zimmer zur rechten des Eingangs für sich, H. Wagner aber die beiden Aerker oben behalten, die stube zur linken aber, so nach dem Garten gehet, sollte die gemeine studirstube bleiben." (2)
(1) Zit. n. A. v. Harnack, Geschichte der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, 3 Bde, Berlin 1900:185
(2) Zit n. Archiv BBAW I, IV; Nr. 6, Protokolle des Konzils, f. 317 f.
Woher nimmt der Mensch die Energie? Tag für Tag, Jahrzehnte lang, wächst und gedeiht er, versetzt Berge, bewegt und bewirkt, gemessen an der eigenen Winzigkeit, ungeheuer viel. Das neunzehnte Jahrhundert hatte den Wissenschaften vom Leben die Mystik genommen, als es den "Vitalismus" überwand, den Glauben an eine besondere "vis vitalis", eine Lebenskraft jenseits dessen, was die Naturwissenschaften kannten. Die erste Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts begann dann, das biologische Leben in physikalische Gesetze, chemische Reaktionen und Moleküle aufzulösen. Einen Meilenstein auf diesem mühsamen, auch heute noch nicht abgeschlossenen Weg setzte 1928 in Berlin Karl Lohmann, als er in tierischen, pflanzlichen, mikrobiellen Zellen eine Substanz entdeckte, die als der Energieträger allen Lebens gelten konnte.
"Alle Kräfte des Lebens sind molekulare Kräfte" hatte 1853 der englische Zoologe Thomas Huxley verkündet. Aber es brauchte noch einige Forschergenerationen, bis man diese Kräfte und Moleküle wirklich beschreiben konnte. Karl Lohmann entdeckte das Adenosintriphosphat (ATP) und klärte seine chemische Struktur auf. Er steuerte so den qualitativ und quantitativ wichtigsten Baustein zu unserem mechanistischen Bild vom Leben bei. Es ist sicher nicht übertrieben, das ATP neben die DNA, das Molekül, das unsere Erbinformation trägt, zu stellen. Das eine fasst die Energetik des Lebens, das andere seine Genetik in drei Buchstaben zusammen; drei Buchstaben, hinter denen sich ausser komplizierter Chemie nichts weniger als Bausteine unseres auf Physik und Chemie reduzierten mechanistischen Weltbildes verbergen.
Karl Lohmann wurde am 10. April 1898 als Sohn einer westfälisch-bäuerlichen Familie in Bielefeld geboren. Er nahm als Artillerist am Ersten Weltkrieg teil und studierte anschliessend an den Universitäten Münster und Göttingen Chemie. Die entscheidende Phase in seinem Leben begann 1924, als er Mitarbeiter des Nobelpreisträgers Otto Meyerhof am Kaiser-Wilhelm-Institut für Biologie in Berlin-Dahlem wurde. Er kam zur rechten Zeit an den rechten Ort: In Dahlem war Meyerhof dem Geheimnis der Muskelarbeit auf der Spur. "Stoffwechsel" hiess das neue Forschungsgebiet, das die Umwandlung von Kohlehydraten in Milchsäure beschrieb. Das Spannende an diesem Wechsel der stofflichen Natur waren zwei Dinge: zum einen die Enzyme, die diese Umwandlungen katalysieren, übrigens auch ausserhalb der lebenden Zelle, also eindeutig ohne vis vitalis; zum anderen der Energiegewinn, der mit ihm einhergeht. Meyerhof (und eine Reihe von Biochemikern seiner Zeit) entdeckten mit genialen experimentellen Pionierarbeiten die "Chemie des Lebens" und liessen den Unterschied zwischen organischer und anorganischer Materie verschwinden. Nicht eine Lebenskraft macht das Leben aus sondern ein Protoplasma - auch dies ein Ausdruck der Vitalismusdebatte des 19. Jahrhunderts. Das Protoplasma ist nichts anderes als die Summe der Chemikalien in der Zelle, die den Gesetzen der Physik gehorchend allein durch ihre Kompliziertheit "lebendig" sind.
Meyerhofs Stärken waren die Präzision seiner Messungen und die gedankliche Schärfe seiner Interpretationen. Er versuchte, die chemischen Veränderungen im Muskel - eben jenen Stoffwechsel - mit dessen mechanischer Arbeit in Beziehung zu setzen. Am schwierigsten war die Frage zu beantworten, wie die Energie, die die Stoffwechselrekationen freisetzen, für die Muskelarbeit genutzt wird. Eine Schlüsselrolle schienen hierbei bestimmte Verbindungen der Phosphorsäure zu spielen, in denen die Stoffwechselenergie gewissermassen 'zwischengelagert' und anschliessend für das Zusammenziehen des Muskels verwendet wird. Meyerhof nannte die Zwischenlager "energiereiche Verbindungen". Die wichtigste dieser energiereichen Phosphorsäureverbindungen ist das ATP; Karl Lohmann entdeckte sie 1928 in Meyerhofs Institut. Der Nobelpreis für diese Grosstat blieb ihm versagt, vielleicht weil er ihn mit Meyerhof hätte teilen müssen - und der hatte gerade einen Nobelpreis, noch dazu auf dem gleichen Forschungsgebiet, erhalten.
Es ist nicht berichtet, dass dieser bescheidene Gelehrte darunter litt, in Stockholm übergangen worden zu sein. Lohmann wird als ein überdurchschnittlich zurückhaltender, dabei mitunter schwieriger, aber uneingeschränkt aufrichtiger Mensch geschildert. Er besass den trockenen Humor des Westfalen und umgab sich mit einer gewissen Unangreifbarkeit, die ihn zwei deutsche Diktaturen unversehrt überstehen liess.
1929 ging Lohmann ging mit Meyerhof an das Heidelberger Kaiser-Wilhelm-Institut für Medizinische Forschung. In Heidelberg studierte er Medizin und promovierte 1935 zum doctor medicinae. 1936 erhielt er seine ärztliche Approbation. Die Heidelberger Zeit, zusammen mit Otto Meyerhof, war wissenschaftlich ausserordentlich fruchtbar. Mit einer Reihe wichtiger Arbeiten über die Glykolyse, einige ihrer Enzyme und immer wieder über neue von ihm entdeckte Phosphorsäureverbindungen festigte er seine Stellung als einer der führenden Biochemiker seiner Zeit. Seither müssen Studenten der Physiologie und der Biochemie nicht nur die Formel und Bedeutung des ATP sondern auch die "Lohmann-Reaktion" lernen, einen zentralen Stoffwechselschritt auf dem Weg der Nutzung der Energie des "Zwischenlagers" für die Muskelarbeit. Doch nicht nur das; heute wissen wir: ATP ist die "universale Energiemünze der Zelle". Keine wichtige Syntheseleistung eines lebenden Organismus, kaum ein Lebensphänomen kommt ohne ATP aus. Jeder Mensch setzt täglich annähernd zwei Drittel seines eigenen Körpergewichts an ATP um; ATP, das beim Stoffwechsel und bei der Atmung entsteht, und anschliessend beim Wachstum, bei der Arbeit, beim Denken und Handeln gleich wieder vergeht.
Schon 1937 wurde Lohmann an das physiologisch-chemische Institut der Berliner Universität berufen, noch im selben Jahr zu dessen Direktor ernannt und behielt dessen Leitung 14 Jahre lang. Als unpolitischer Wissenschaftler ging er unkompromittiert aus dem Dritten Reich hervor und wuchs ohne auffallenden Bruch in das Nachkriegsdeutschland und später in die DDR hinüber, stets an massgeblicher Stelle und zunehmend administrativ aktiv. Die sowjetische Militäradministration machte Lohmann zum Geschäftsführenden Direktor des Instituts für Medizin und Biologie in Berlin-Buch und übertrug ihm die Leitung des dortigen Instituts für Biochemie. Er war der Motor dieser weitsichtigen Gründung: In Buch wurde geboren, was wir heute als "molekulare Medizin" bezeichnen, die enge Verknüpfung von naturwissenschaftlicher Grundlagenforschung mit der Heilkunde, die Zusammenarbeit zwischen Forschungslabor und Klinik, zwischen Molekularbiologen und Arzt.
1949 wurde Karl Lohmann zum ordentlichen Mitglied der Deutschen Akademie der Wissenschaften ernannt, deren Sekretar der Klasse für medizinische Wissenschaften er seit 1951 war. Ebenfalls 1951 erhielt er den Nationalpreis II. Klasse für Wissenschaft und Technik der DDR. 1955 wurde er in die Deutsche Akademie der Naturforscher, Leopoldina, in Halle, aufgenommen. 1958, zu seinem 60. Geburtstag erhielt er den Vaterländischen Verdienstorden in Silber. Trotz vieler staatlicher Ehrungen (zu denen die Akademiemitgliedschaften selbstredend nicht gehören): er war stets in Opposition zum Regime. Geschützt durch seinen Weltruhm und durch seinen unbestechlichen Charakter konnte er opponieren und anderen weniger Unangreifbaren helfen. Als typischer Vertreter der "Bürgerlichen" durfte er dazu beitragen, die biochemisch-physiologische Forschung in der DDR aufzubauen, aber mit jenem Freiraum, der die Menschenwürde intakt lässt.
Lange Jahre war Karl Lohmann Vorsitzender der Biochemischen Gesellschaft der DDR, die nach dem Mauerfall in einem der vorbildlich gelungenen Vereinigungsprozesse mit der westdeutschen Gesellschaft für Biologische Chemie fusionierte. Die vereinigte, sich heute Gesellschaft für Biochemie und Molekularbiologie (GBM) nennende, Wissenschaftlerorganisation übernahm eine schöne Tradition der Biochemischen Gesellschaft der DDR: jährlich ehrt sie das Angedenken an den 1978 achtzigjährig verstorbenen Gelehrten durch die Verleihung des Karl-Lohmann-Preises für Naturwissenschaftler an einen herausragenden Forscher.
Ferdinand Hucho
Das Phänomen des Tischrückens, eine "drehende und fortrückende Bewegung, in welche ein Tisch versetzt wird, wenn mehrere um den Tisch herum sitzende oder stehende Personen ihre Hände darauf legen, wobei durch Berührung der kleinen Finger eine Art von Kette gebildet wird," (1) hatte sich aus den USA kommend mit großer Geschwindigkeit in Europa ausgebreitet. Nicht nur die Besucher der Salons waren fasziniert, sondern auch mancher Wissenschaftler.
So bat der Naturphilosoph und Mediziner Carl Gustav Carus, Präsident der Leopoldina, Alexander von Humboldt darum, die Akademie möge sich dieses Themas annehmen. Humboldt freilich konnte ein spannendes wissenschaftliches Problem nicht erkennen, sondern bloß Druck und Stoß. Eine Befassung der Akademie mit verrückten Tischen lehnte er ab.
Unbekannt ist, ob diese Entscheidung die Beziehungen von Leopoldina und Akademie so belastet hat, daß es erst in jüngster Zeit wieder zu gemeinsamen Initiativen gekommen ist.
(1) Augsburger Allgemeine Zeitung vom 4.4.1853, zit. nach: K.-R. Biermann, I. Schwarz, "Am Tisch in der Akademie circuliren lassen", in: Gegenworte, 1, 1998:74.
Carus
Ausgangspunkt des Briefwechsels scheint ein Artikel in der Augsburger Allgemeinen Zeitung gewesen zu sein, in der das Tischrücken und Tischklopfen vorgestellt wurde: "ein Frage- und Antwortspiel, bei welchem der Tisch durch das Erheben und Aufstampfen eines Fußes je nach Abrede Ja oder Nein, die Buchstaben des Alphabets oder die Zahlen bezeichnen mußte" (1) .
Diese Darstellung gelangte in die Hände des damaligen Präsidenten der Akademie der Naturforscher in Halle (Leopoldina) Carl Gustav Carus, worauf dessen jüngerer Sohn einen solchen Tisch konstruierte. Da Carus die beschriebenen Phänomene offenbar wissenschaftlich interessant fand, sandte er an Alexander von Humboldt einen Brief mit der Skizze dieses Tisches und bat, Humboldt möge die Sache in der Akademie vorstellen.
Dem war die Angelegenheit höchst unangenehm; er wollte Carus nicht kränken, auf jeden Fall aber vermeiden, dem Tischrücken durch eine Diskussion in der Akademie das Ansehen von Ernsthaftigkeit zu verschaffen. So übergab er dem jungen Physiologen Emil du Bois-Reymond "den hirnlosen Brief des Dresdner Phantasten, damit Sie lezteren, des Verfassers ausdrüklichem Wunsche gemäß, am Akademie-Tage bei unseren Freunden, Poggendorff, Dove, Riess, Mitscherlich, Joh. Müller am Tische circuliren lassen." (2)
Carus hat er geantwortet: "Ich habe immer geglaubt, daß der ungleiche ganz mechanische Druck der aufgelegten Finger um so bemerkbarer in seiner bewegenden Wirksamkeit gemacht wird, als man die Tischscheibe selbst beweglicher macht. In der nüchtern-langweiligen Zeit, in der wir leben, möchte ich aber nicht so harmlose Freuden stöhren." (3)
(1) Zit. nach: K.-R. Biermann, I. Schwarz, "Am Tisch in der Akademie circuliren lassen", in: Gegenworte, 1, 1998:74.
(2) A. v. Humboldt an E. du Bois-Reymond, 19.4.1853, in: I. Schwarz, K. Wenig, Briefwechsel zwischen Alexander von Humboldt und Emil du Bois-Reymond, Berlin 1996: 132.
(3) A. v. Humboldt an C. G. Carus, 19.4.1853, in: ibid:178.
Durch die ethnonationalistischen Konflikte unserer Tage werden wir immer wieder an eine Entdeckung des Botanikers Karl Friedrich Philipp von Martius erinnert. Als Botaniker war er nach Brasilien gereist. Aktuell ist jedoch eine Entdeckung, die er für die Ethnologie - also eine ihm fremde Wissenschaft - gemacht hatte.
Martius entdeckte, daß man Ethnien und Völker nicht nur als Stamm, als Abstammungsgemeinschaft begreifen kann; sie können auch in Zufluchtsräumen aus zusammenfließenden Elementen neu entstehen. Bei brasilianischen Indianern hatte er eine solche "colluvies gentium" beobachtet.
Von Botanikern wird Martius als Schöpfer gewaltiger deskriptiver Werke verehrt wird. Dies erfährt auch ein Nicht-Naturwissenschaftler, wie der Autor dieser Zeilen, rasch. Da sein Name nicht nur in der Bennenung von Pflanzen, sondern sogar in einem Berg verewigt worden ist, muß er Gewaltiges geleistet haben. Daß aber mehr als Fleiß und Sorgfalt (Tugenden, die sich mit großer Neugier nur schwer verbinden) notwendig waren, um von 1840 bis zu seinem Lebensende 1868 mit Co-Autoren in 46 Lieferungen der "Flora Brasiliens" über 8000 Arten zu beschreiben, erkennt man erst auf den zweiten Blick.
Martius war einer der ganz großen Organisatoren der deutschsprachigen Wissenschaft. Von seinem 29. Lebensjahr an brachte er über ein Dutzend beschreibender Darstellungen unter anderem zur Flora Brasiliens in Zusammenarbeit mit anderen Wissenschaftlern heraus (darunter als Hauptwerk seine dreibändige Naturgeschichte der Palmen). In der Zeit nach Linné war die systematische Beschreibung des Pflanzenreiches die große Herausforderung und Humboldts Reiseberichterstattung das Vorbild.
Martius arbeitete mit älteren wie jüngeren Kollegen zusammen, nie jedoch eignete er sich deren Leistung an. Eher war er es, der andere ehrte. Vor allem Preis-Reden sind uns aus seiner Zeit als Sekretar der mathematisch-physikalischen Klasse der Bayerischen Akademie der Wissenschaften erhalten. Auch dieses Amt faßte er als Mittel zum Zweck der Organisation wissenschaftlicher Kooperation auf. Die Zuweisung von Ehre ist dabei die kleine Münze, in der wissenschaftliche Zusammenarbeit und Zuarbeit entlohnt werden. Er selbst wurde durch Ehrenmitgliedschaft in fast allen wissenschaftlichen Gesellschaften seiner Zeit geehrt, auch die Akademie der Wissenschaften in Berlin trug sie ihm an.
Den Weg zum Erfolg ebnete ihm eine frühe und rasche Förderung. Nachdem er schon mit 16 Jahren - damals nicht unüblich jung - in seiner Geburtsstadt Erlangen immatrikuliert worden war, wurde er schon kurz vor seiner Promotion nach acht Semestern als junger neugieriger Mann entdeckt. Er war wohl aufgefallen, weil er sich in seinem Studium nicht nur für seine Studienfächer Medizin und Botanik interessierte und bei den beamteten Autoritäten hörte; vielmehr tauschte er sich auch mit Kommilitonen aus und lernte sogar vom Universitätsgärtner Rumelein, dessen Name dadurch in die Wissenschaftsgeschichte Eingang fand.
Martius wurde in das Nachwuchsförderungsprogramm der Bayerischen Akademie der Wissenschaften aufgenommen. Drei Jahre später erhielt er seine große Chance: Er wurde zur Teilnahme an der österreichisch-bayerischen Expedition nach Brasilien ausgewählt. Ein eher lächerliches politisches Abenteuer - die Installation eines Habsburger Prinzen als Kaiser Pedro I. von Brasilien - sollte so durch das wissenschaftliche "Begleitprogramm" nachhaltige Folgen haben. Daß diese Folgen vor allem der Botanik zugute kamen, ist das Verdienst von Martius, dessen Name jedoch nicht mit heute noch aktuellen biologischen Theorien verbunden ist. Unsere heutigen Theorien zur Tropenökologie wären aber ohne seine immense Beschreibungstätigkeit und vor allem ohne seine Organisation kooperativer Wissenschaft kaum denkbar.
Schon zwei Jahre nach Veröffentlichung seiner ersten Forschungsergebnisse wurde er mit 32 Jahren zum Professor und kurz darauf zum Direktor des Münchner Botanischen Gartens berufen. Durch diese Ämter konnte er seine großen Publikationsprogramme verfolgen und zahlreiche Schüler ausbilden, darunter auch den späteren Direktor des Berliner Botanischen Gartens, Engler. Jenseits der Fundamente, die er für andere gelegt hat, ist er heute noch aktuell durch seine Arbeiten zu Nachbarwissenschaften, die zu seiner Zeit niemand gewürdigt hat. Er eröffnete 100 Jahre vor der Zeit das Fach Ethnomedizin mit seinem Buch über "Das Naturell, die Krankheiten, das Arzttum und die Hilfsmittel der Ureinwohner Brasiliens" (1843); darin behandelte er auch die Bedeutung des Pfeilgiftes Curare, auf das heute die Herzmedizin nicht verzichten kann. Martius fiel seinen Zeitgenossen durch seine nicht zu bremsende Neugierde und Belehrungsfreude auf. Er spielte nicht nur Violine, sondern veröffentlichte auch über den Geigenbau; er dichtete; er verfaßte einen Führer zum Botanischen Garten. Als 1854 der von ihm neugestaltete Botanische Garten einer Industrieausstellung weichen sollte, trat er verstimmt von seinem Direktorenamt und der Professur zurück. Er betrachtete den Botanischen Garten als ein Mittel der Gewerbeförderung wie auch des internationalen wissenschaftlichen Austauschs, zum Beispiel durch Briefe mit Samen.
Heute würden wir ihn als Menschen großer Anschlußfähigkeit bezeichnen. Dieser Anschlußfähigkeit verdanken wir auch seine heute aktuellen Entdeckungen über "Volksentstehung", die er kurz vor seinem Tod in seinen "Beiträgen zur Ethnographie und Sprachenkunde Amerikas" veröffentlichte.
Martius' Beitrag zur Ethnizitätstheorie ist uns heute nur deshalb bekannt, weil ihn knapp 100 Jahre später der Ethnosoziologe Wilhelm Mühlmann wiederentdeckt hat. Weshalb das Thema der "Volksentstehung aus dem Asyl" so wichtig ist für eine Theorie der Ethnien, leuchtet erst einmal nicht ein. Daß Menschen sich in Zufluchtsräumen (Asylräumen) gegenseitig willkommen heißen und sich in wechselseitiger Anerkennung ihrer Rechte zu einer Gemeinschaft zusammenschließen, scheint doch eine seltene Ausnahme zu sein. Und doch ist diese Wahrnehmung umwerfend wichtig. Sie wirft nämlich die klassische Ethnizitätstheorie um, welche den Zusammenhalt von Ethnien nur auf gemeinsame Sprache oder Religion und in jedem Falle auf Herkunftskultur gründen wollte. Diese Theorie hatte schon eingebaute Risse. Die Wallonen und Flamen, die heute in Belgien zunehmend von einander abrücken, eint die gleiche Konfession, die gleiche Herkunft und auch das gleiche Brauchtum, nur die Sprache erhob man zur Scheidelinie. In Bosnien, Kroatien und Serbien hingegen ist die Sprache bis auf die Orthographie die gleiche, auch die Herkunft und die Alltagskultur eint sie, nur die Religion scheint als Trennmarkierung geeignet. Solche Konfliktlinien - und derer gab es auch vielerlei im vergangenen Jahrhundert - machten aber die frühen Theoretiker nicht an den "ursprünglichen Werten" irre, die angeblich Ethnien und Nationen konstituieren. Sie hielten sich an die dominanten Tendenzen und übersahen "Ausnahmen". Jede Aussage über alle menschlichen Gesellschaften ist aber eine "All-Aussage", und eine solche fällt, wenn man nur ein Gegenbeispiel, eine "Ausnahme", bringen kann. Die "colluvies gentium" von Martius ist ein solches Gegenbeispiel. Wir sehen hier, daß sich stabile menschliche Gemeinschaften trotz unterschiedlicher Herkunft, Sprache oder Religion bilden können, wenn sie sich ein bestimmtes gesellschaftliches Regelwerk schaffen. Die Anerkennung des anderen trotz seiner Fremdartigkeit und der Ausschluß von Gewalt sind dafür zentral. Schutz gegen Angriffe Dritter und Regeln der internen Konfliktschlichtung sind notwendige Voraussetzungen. Einige Generationen später mag mancher so "zusammengeflossene Stamm" von der Vielsprachigkeit zur Einsprachigkeit übergehen; und wenn alle Nachbarn sich als Abstammungsgemeinschaft darstellen, wird man sich auch eine "erfundene Tradition" geben, so daß die Entstehung der Ethnie aus heterogenen Elementen vergessen wird. Beides - die "eigentliche eigene Sprache" wie die Tradition - mögen aber durchaus auch Artefakte aus ethnologischer Forschung sein.
Einem Forscher aus nationalistischem Milieu, dem Mehrsprachigkeit nicht vertraut ist, fällt es schwer, diese wahrzunehmen, und daß eine Nation oder Ethnie durch gesellschaftliche Regeln und nicht durch so etwas Mystisches wie ein "kulturelles Herkommen" zusammengehalten wird, mag er kaum nachvollziehen können. Den Gegensatz dieser Perspektiven - hier gesellschaftliche Regeln, dort die Gefühlsqualitäten von Abstammung und Kultur - hatte der Soziologe Max Weber aufgenommen als er formulierte, daß Nationalismus nichts anderes sei als die "Umdeutung von Vergesellschaftung als Gemeinschaft". Wir können heute präzise formulieren, daß nur bestimmte gesellschaftliche Regeln, nicht aber die Sprache, Herkunft oder Religion Ethnien und Nationen zusammenhalten und Bürgerkriege ausschließen können.
Daß wir hierfür den Beweis antreten können, verdanken wir unter anderem dem Botaniker Martius, der, anders als die meisten der zeitgenössischen Reisenden, auch dasjenige wahrzunehmen und dann präzise zu schildern vermochte, was in keiner Weise seinen Erwartungen entsprochen hatte.
Georg Elwert
"Am Saal des Parlements so England kund gebieten,
Schrieb Cromwell endtlich an: Der orth ist zu Vermiethen.
Dem Kunstwerck zu Berlin geschicht noch größre Ehr,
Ein König schreibt an Hauß: Weicht oder Thaler hehr."
Dem Fröhlichen gehört die Welt - daran wurde die Wissenschafts- und Kulturszene Berlins erst neuerdings wieder erinnert. Ungesagt blieb, daß Leibniz für diese Haltung Modell gestanden hat mit seiner lyrischen Reaktion auf die Finanzforderungen des Königs, die sich unter einem Brief des Sekretars der Akademie Johann Theodor Jablonski vom 22. 4. 1713 findet. Darin war dem unermüdlichen Forscher nach neuen Geldquellen für die Akademie mitgeteilt worden, daß der König Friedrich Wilhelm den Befehl zur öffentlichen Ausschreibung einer Miete für das Akademie-Observatorium gegeben hat. Zwar habe sich bislang kein Interessent gemeldet, aber wahrscheinlich müsse die Societät, ähnlich der Malerakademie, die Miete für ihre Räumlichkeiten an den König zahlen.
(Zit. n. Gerd van den Heuvel, Leibniz in Berlin. Ausstellung im Schloß Charlottenburg, 10. Juni - 22. Juli 1987, Berlin 1987:68, Nr. 47)
"Jean Paul" gestohlen
Wer schon einmal eine Datei ins elektronische Nirwana geschickt hat, weiß um die deutliche Empfindung, daß so tiefe Gedanken und geschliffene Formulierungen nicht ein zweitesmal den Weg ins Typoskript finden werden.
Nur ganz wertvolle Werke freilich verschwinden nicht durch Nachlässigkeit sondern werden entwendet. Auf dem Weg zur Leipziger Druckerei wurde nach der vom Nationalsozialismus erzwungenen Unterbrechung Anfang Mai 1948 das Manuskript des ersten Bandes der Historisch-kritischen Jean-Paul-Ausgabe (Bd. 5 der Briefe von Jean Paul) mitsamt dem Transportwagen gestohlen. Ihr Begründer und Herausgeber, Eduard Berend, hatte die Arbeit kurz zuvor der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin übergeben. Die Täter wurden nie gefaßt und das Manuskript blieb bis heute spurlos verschwunden. Erst 1961 konnte der Band nach einer "mühsamen Wiederherstellung" auf der Grundlage von handschriftlichen Aufzeichnungen Berends erscheinen. Einige Lücken waren allerdings nicht mehr zu schließen.
Der 1834 geborene Historiker und Publizist Heinrich von Treitschke wurde erst 1895, im Jahr vor seinem Tod, in die Preußische Akademie der Wissenschaften gewählt. Daraufhin legte Theodor Mommsen, der angesehene Altertumshistoriker und Liberale, das einflußreiche Amt des Akademie-Sekretars nieder, das er über zwanzig Jahre innegehabt hatte. "Neben dem kann ich nicht bleiben", schrieb er an seine Frau, und begründete es unter anderem mit Treitschkes antisemitischen Ausfällen.
Der in Dresden geborene, aus einer kurz vorher geadelten Offiziersfamilie stammende Treitschke gehörte zu einer kleinen Spitzengruppe einflußreicher Publizisten, die die öffentliche Meinung des Reichsgründungsjahrzehnts und des Bismarckreichs prägten. Im preußischen Heereskonflikt gehörte der streitbare Nationalliberale Anfang der 60er Jahre zu den entschiedenen Kritikern der antiparlamentarischen Verfassungspolitik Bismarcks. Doch er war nach dem Scheitern der Revolution von 1848/49 davon überzeugt, daß die ersehnte Einigung Deutschlands nur das Werk Preußens sein könne. Preußens Macht müsse das "Joch der Habsburger" abschütteln und das deutsche Reich durch Annexion der Kleinstaaten gewaltsam herstellen. Der fast taube Mann verfügte über große rhetorische Gaben und schriftstellerische Talente. Leidenschaftlich und wirkungsvoll trat er seit 1864 für Bismarcks nationale Politik ein. Seine Feder, so Mommsen, war eines der besten Schwerter, die für die deutsche Einheit fochten.
Er erlebte die Reichsgründung von 1870/71 als glückliche Erfüllung. Er dichtete das Kriegslied vom "Schwarzen Adler" und drängte Bismarck zur Annexion des Elsaß: "Heraus mit dem Raube". Auch verfassungs- und innenpolitisch machte er seinen Frieden mit Bismarck, es störte ihn lediglich, daß der neue Nationalstaat nicht unitarischer war.
Von 1871 bis 1884 gehörte Treitschke dem Reichstag an. Er trat für Machtstaatspolitik ein. Auf die zunehmenden sozialen Spannungen reagierte er schroff konservativ. Er sah die "idealen Güter unserer Kultur ... von einer bestialischen Pöbelbewegung bedroht". Er attackierte gemäßigte Sozialreformer wie Gustav Schmoller als "Gönner des Sozialismus" und die Sozialdemokratie als "Partei der sittlichen Verwilderung, der politischen Zuchtlosigkeit und des sozialen Unfriedens".
Mit der Wirtschaftskrise der siebziger Jahre kam es zum Aufschwung des Antisemitismus. Treitschke war wohl der erste, der ihn in der gebildeten Öffentlichkeit salonfähig zu machen begann. Er bezeichnete die Juden als "kulturzersetzendes Element", als "unser Unglück". Er sprach von "deutsch redenden Orientalen" und qualifizierte die "heimatlosen internationalen Journalisten" wie Heine und Börne ab, die den "sittlichen und geistigen Verfall" eingeleitet hätten. Mommsen, Virchow, Droysen und andere widersprachen, eine öffentliche Kontroverse fand 1879-81 statt, die als "Berliner Anitsemitismusstreit" in die Geschichte einging. Doch die Popularität Treitschkes bei den Berliner Studenten und dem gebildeten Publikum blieb ungebrochen. Seine Äußerungen entsprachen verbreiteten Stimmungen und verstärkten sie.
Treitschke bewegte sich weiter nach rechts als mancher andere. Aber insgesamt war seine Wendung vom liberalen Kritiker des Spätabsolutismus der Jahrhundertmitte zum illiberalen Konservativen des wilhelminischen Reichs ganz typisch für den Niedergang des deutschen Liberalismus und die Umorientierung im damaligen Bürgertum.
Im Hauptberuf war Treitschke Historiker. In seiner interessanten Leipziger Habilitationsschrift von 1858 hatte er die Möglichkeit bestritten, Soziologie oder Ökonomie getrennt von der Staatswissenschaft zu betreiben. Andererseits müsse sich jede Wissenschaft vom Staat - und auch jede Geschichte der Politik - sozialpolitisch öffnen und die "Mannigfaltigkeit des Völkerlebens" ernst nehmen. An der zentralen Stellung der staatlichen Macht ließ er allerdings auch methodisch nicht rütteln.
Als Professor in Freiburg, Kiel, Heidelberg und ab 1874 Berlin las er über preußische, deutsche und europäische Geschichte, aber immer auch über "Politik". Er veröffentlichte vielbeachtete historisch-politische Aufsätze, so "Das deutsche Ordensland Preußen" und "Frankreichs Staatsleben und der Bonarpartismus". Sie zielten darauf ab, aus der Untersuchung der Geschichte so etwas wie eine vergleichende Politikwissenschaft zu entwickeln.
Zwischen 1879 und 1895 erschien seine "Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert". Sie blieb unvollendet, auf fünf Bände und die Zeit bis 1847 beschränkt. Aber sie fußte auf intensiver Archivforschung, wurde ein großer Publikumserfolg und brachte dem Autor hohe wissenschaftliche Ehren. Zuletzt wurde ihm die Herausgeberschaft der Historischen Zeitschrift übertragen, eine große Auszeichnung für einen Mann, der den "Zunft-Professoren" und ihrem Spezialistentum immer mit Distanz begegnete.
Im Gegensatz zu Ranke hat Treitschke das Ideal der wissenschaftlichen Objektivität ausdrücklich abgelehnt. Er urteilte schwarz-weiß und begriff Geschichtschreibung als Mittel der vaterländischen Pädagogik. Es überrascht wenig, daß es in seinem Werk von Verzerrungen, teleologischen Konstruktionen und Anachronismen nur so wimmelt. Ziemlich ungebrochen und unreflektiert setzte es die Vorurteile und Ressentiments seines Autors in Geschichtsschreibung um. Es verletzte geschichtswissenschaftliche Standards. Die Zunft sah mehrheitlich darüber hinweg.
Auf der andern Seite verdankte Treitschkes historisches Werk der politischen Leidenschaft, von der es getragen wurde, auch einige Vorzüge. Es erschloß die damals unterentwickelte Zeitgeschichte erstmals in großer Synthese. Es war lesbar und packend geschrieben. Und es bezog ein, was die dürre Politikgeschichte herkömmlicherweise vernachlässigte: das kulturelle, soziale und wirtschaftliche Leben der Zeit.
Parteilichkeit als Sperre auf dem Weg zur historischen Wahrheit und als Quelle wissenschaftlicher Energie zugleich? Sicherlich. Doch vor allem steht der Name Treitschke für einen Fall politischer Instrumentalisierung der Zeitgeschichte zum Schaden von Wissenschaft und politischer Kultur, mit schwer abschätzbaren Folgen.
Jürgen Kocka