"Welches sind die wirklichen Fortschritte, die die Metaphysik seit Leibnizens und Wolf's Zeiten in Deutschland gemacht hat?"
Auf die wiederholt gestellte, wohl berühmteste unter den veröffentlichten philosophischen Preisaufgaben gingen erst 1795 Antworten ein, die den Ansprüchen der Akademie genügten. Dann freilich gleich mehrere, so daß der Preis geteilt werden mußte: eine Hälfte erhielt der Logiker und Metaphysiker Johann Christoph Schwab aus Stuttgart; die andere Hälfte wurde noch einmal geteilt und dem Kantianer Johann Heinrich Abicht aus Erlangen sowie dem Kieler Kantianer Karl Leonhard Reinhold zuerkannt. Der Prediger Jenisch erhielt das Accessit.
Preis
Die Vergabe der Preise signalisiert, daß die Akademie am Ausgang des Jahrhunderts endlich wirkliche Fortschritte bei der Beobachtung der Fortschritte der Metaphysik feststellen zu können glaubte. Als Fortschritt prämiert wurden fortschrittsskeptische Einsichten. So fühlte etwa der Preisträger Schwab "recht lebhaft, wie schwer es sey, etwas besseres zu machen, als was uns Leibnitz und Wolff hinterlassen haben: und weil wir doch ein metaphysisches System, so wie ein bewohnbares Haus, haben müssen; so entschloss ich mich, das Leibnitzisch-Wolffische, mit einigen Veränderungen, (den natürlichen Folgen jedes eigenen Nachdenkens) zu meinem Gebrauche beyzubehalten."(1) Und Mitgewinner Abicht konstatiert in seiner Arbeit den unauflöslichen Zusammenhang zwischen Fortschrittskonstruktionen und dem metaphysischen System des Urteilenden. Ein Materialist entwickele andere Voraussetzungen für die Betrachtung des Weltalls als der Theist, der Deist oder der Pantheist.(2) Hinter und über allem steht freilich Immanuel Kant. Er selbst bearbeitete die Frage bereits im Jahre der Aufgabenstellung durch die Akademie, reichte aber keine Preisschrift ein. Es existieren drei unvollständige Antwortentwürfe.
Im ersten Entwurf heißt einleitend über die Metaphysik: "Dies ist ein uferloses Meer, in welchem der Fortschritt keine Spur hinterläßt und dessen Horizont kein sichtbares Ziel enthält, an dem, um wieviel man sich ihm genähert habe, wahrgenommen werden könnte. - In Ansehung dieser Wissenschaft, welche selbst fast immer nur in der Idee gewesen ist, ist die vorgelegte Aufgabe sehr schwer, fast nur an der Möglichkeit der Auflösung derselben zu verzweifeln, und sollte sie auch gelingen, so vermehrt noch die vorgeschriebene Bedingung, die Fortschritte, welche sie gemacht hat, in einer kurzen Rede vor Augen zu stellen, diese Schwierigkeit. Denn Metaphysik ist ihrem Wesen, und ihrer Endabsicht nach, ein vollendetes Ganze; entweder Nichts, oder Alles. Was zu ihrem Endzweck erforderlich ist, kann also nicht, wie etwa Mathematik oder empirische Naturwissenschaft, die ohne Ende immer fortschreiten, fragmentarisch abgehandelt werden."(3)
Resümierend stellt Kant im 2. Entwurf im Abschnitt "Was für Fortschritte kann die Metaphysik in Ansehung des Übersinnlichen thun?" fest: "Die Fruchtlosigkeit aller Versuche der Metaphysik, sich in dem, was ihren Endzweck, das Übersinnliche, betrifft, theoretisch-dogmatisch zu erweitern: erstens in Ansehung der Erkenntniß der göttlichen Natur, als dem höchsten ursprünglichen Gut; zweytens der Erkenntniß der Natur einer Welt, in der, und durch die das höchste abgeleitete Gut möglich sein soll; drittens die Erkenntniß der menschlichen Natur, sofern zu dem, diesem Endzwecke angemessenen Fortschreiten, mit der erforderlichen Naturbeschaffenheit angethan ist; - die Fruchtlosigkeit, sage ich, aller darin bis zum Schlusse der Leibniz-Wolfischen Epoche gemachten und sogleich das nothwendige Mißlingen aller künftig noch anzustellenden Versuche soll itzt beweisen, daß auf dem theoretisch-dogmatischen Wege für die Metaphysik zu ihrem Endzweck zu gelangen, kein Heil sey, und daß alle vermeynte Erkenntniß in diesem Felde transscendent, mithin gänzlich leer sey."(4)
(1) Schwab, Johann Christoph: Welches sind die wirklichen Fortschritte, die die Metaphysik seit Leibnitzens und Wolffens Zeiten in Deutschland gemacht hat?, in: Preissschriften über die Frage: Welche Fortschritte hat die Metaphysik seit Leibnitzens und Wolffs Zeiten in Deutschland gemacht?, Berlin 1796:146.
(2) ibid.:469.
(3) Kant, Immanuel, Welches sind die wirklichen Fortschritte, die die Metaphysik seit Leibnizens und Wolf's Zeiten in Deutschland gemacht hat?, in: Kant, gesammelte Schriften, Akademie-Ausgabe, Bd. XX, Berlin 1942:259
(4) ibid.:301.
Franz Xaver von Zach
Sie starben nicht nur in demselben Jahr 1832, der Geheimrat Johann Wolfgang von Goethe und der Reichsfreiherr Franz Xaver von Zach. Goethe hat dem aus Pest gebürtigen ungarischen Astronomen in "Wilhelm Meisters Wanderjahre(n)" auf subtile Weise ein literarisches Denkmal gesetzt. Hinter der Schloßdame Makarie und ihrem vertrauten Arzt, Mathematiker und Astronomen verbergen sich - unschwer erkennbar - die Herzogin Marie Charlotte Amalie, Gattin von Ernst II., Herzog von Sachsen-Gotha-Altenburg, und der Gothaer Hofastronom von Zach. Die herzöglichen Residenzen von Gotha und Weimar lagen nicht weit voneinander entfernt: Höfische Begebenheiten wurden wechselseitig schnell bekannt. Als Zach am 25.7.1800 auf Vorschlag des Berliner Akademieastronomen Johann Elert Bode zum Auswärtigen Mitglied der Berliner Akademie der Wissenschaften gewählt wurde - an der Göttinger Akademie hatte er diese Stellung schon seit 1792 inne - war Zach einer der angesehensten Astronomen Europas, seine Gothaer Sternwarte auf dem Seeberg ein wichtiger Mittelpunkt der europäischen astronomischen Forschung. Heute steht an deren Stelle nur noch ein Hotelrestaurant mit Gedenktafel.
Zachs Ansehen zu Lebzeiten gründete nicht auf spektakulären Einzelleistungen oder Entdeckungen, sondern auf seinen Verdiensten um die Wissenschaftsorganisation, auf der Herausgabe der ersten astronomischen Fachzeitschriften, der Gründung eines astronomischen Fachverbandes, Durchführung des ersten internationalen astronomischen Kongresses, auf der tatkräftigen Pflege internationaler Zusammenarbeit und der erfolgreichen Förderung junger Gelehrter, darunter des jungen Karl Friedrich Gauß.
Der Venusdurchgang des Jahres 1769 (bei dem die Venus als schwarzes Scheibchen über die Sonnenscheibe wandert) hatte das astronomische Interesse des noch jugendlichen Zach geweckt. Nach kurzer Tätigkeit als österreichischer Vermessungsingenieur und Professor der Mechanik im damals zu Österreich, heute zur Ukraine gehörenden Lemberg (ukrainisch Lwiw) begab sich Zach auf Reisen nach Paris, London und Berlin. Dort lernte er führende Astronomen wie Joseph Jérôme de Lalande, Pierre Simon de Laplace, Nevil Maskelyne, Friedrich Wilhelm Herschel und Bode kennen. Entscheidend für sein künftiges Leben wurde seine Tätigkeit beim sächsischen Gesandten Graf Hans Moritz von Brühl in London, der ihn dem Herzog Ernst II. als Astronomen empfahl. Ernst II. berief Zach zu äußerst günstigen Bedingungen zu seinem Astronomen in Gotha, der nach dem Vorbild der Oxforder Sternwarte in den Jahren 1787-1791 seine eigene Sternwarte mit den besten Instrumenten seiner Zeit einrichten ließ.
Bis zum Tode des Herzogs im Jahre 1804 entfaltete Zach eine überaus erfolgreiche Beobachtungstätigkeit auf dem Seeberg. Seine Sternwarte wurde zum astronomischen, geodätischen und kartographischen Zentrum der Goethezeit. Seine eigenen ersten Arbeiten hatte Zach in den von Bode seit 1774 herausgegebenen Berliner astronomischen Jahrbüchern und zugehörigen Supplementbänden veröffentlicht. Was fehlte, waren astronomische Fachzeitschriften zum schnellen Wissensaustausch und zur Veröffentlichung von Forschungsergebnissen. Zach begründete 1798 die "Allgemeinen geographischen Ephemeriden", die ihre Leser "mit allem Wissenswürdigen, was im Fache der Geographie, Astronomie und Statistik erscheint", bekanntmachen sollten. Es war die erste astronomisch-geodätische Fachzeitschrift überhaupt. Sie erschien bis 1816. Bereits 1800 begründete Zach eine weitere Zeitschrift, die "Monatliche Correspondenz zur Beförderung der Erd- und Himmelskunde", deren Erscheinen 1813 eingestellt wurde. Von 1818-1826 gab Zach in seiner damaligen Wahlheimat Marseille die "Correspondance astronomique, géographique, hydrographique et statistique" heraus.
Zachs Zeitschriften spiegeln seinen lebhaften Kontakt mit fast allen damals lebenden Astronomen Europas wider. Man weiß von über 600 Briefen und rund 70 Briefpartnern. Bereits 1797 hatte Zach sofort die Abhandlung des Bremer Arztes Wilhelm Olbers über eine Methode veröffentlicht, die Bahn von Kometen zu berechnen. 1799 suchte der 22jährige Gauß den Kontakt zu Zach, um mit den Methoden der praktischen Astronomie vertraut zu werden. Zu einem solchen Ausbildungsbesuch kam es erst 1803. Inzwischen hatte sich aber eine fruchtbare Zusammenarbeit zwischen Gauß und Zach ergeben, die den Planetoidengürtel zwischen Mars und Jupiter betraf. Am 1.1.1801 hatte Guiseppe Piazzi in Palermo den ersten dieser Planetoiden, die Ceres, entdeckt und darüber unter anderem Lalande in Paris und Bode in Berlin unterrichtet. Die Ceres war jedoch für Piazzi nur sechs Wochen beobachtbar und wäre, wie Zach später sagte, vielleicht nicht wieder aufgefunden worden, wenn nicht Gauß nach einer neuen Methode die Bahn berechnet hätte. Tatsächlich gelang es Zach, die Ceres aufgrund der Gaußschen, in der "Monatlichen Correspondenz" veröffentlichten Berechnungen am 7.12.1801 wieder aufzufinden. Dies bedeutete für Gauß den wissenschaftlichen Durchbruch und internationale Anerkennung. Die Entdeckung weiterer Planetoiden folgte bald: Während Gauß deren Bahnelemente berechnete, die Zach in der "Monatlichen Correspondenz" bekanntmachte, versorgte Zach den Partner mit möglichst guten Beobachtungsdaten. Zach entwarf die Pläne für die nicht gebaute Sternwarte in Braunschweig ebenso wie für die gebaute in Göttingen, an der Gauß 1807 Direktor wurde. So nimmt es nicht Wunder, daß Gauß später Zach in einer Übersicht über die zeitgenössische Astronomie einen bedeutenden Platz zuwies.
Auch der zwanzigjährige Friedrich Wilhelm Bessel, einer der bedeutendsten Astronomen des 19. Jahrhunderts, damals noch Kaufmannsgehilfe in Bremen, erfuhr die nachdrückliche Förderung Zachs (und dessen Freundes Olbers). Angeregt durch eine Fragestellung Zachs berechnete Bessel die Bahn des Halleyschen Kometen, eine Arbeit, die Zach mit großem Lob 1804 in die "Monatliche Correspondenz" einrückte.
Als der 67jährige Lalande im Sommer 1798 seinem Freund Zach den lange geplanten Besuch abstattete, hatte er zuvor in launiger Form darum gebeten, auch andere deutsche Astronomen wie Bode oder Johann Schroeter aus Lilienthal bei Bremen bei dieser Gelegenheit kennenzulernen: "Sehen Sie doch, wie glücklich ich bin; alles gelingt mir, meine Gesundheit ist unzerstörbar, meine Genüsse sind fortdauernd, denn die Astronomie ist meine Geliebte, und ich genieße täglich". Tatsächlich kam es nicht nur zu dieser gewünschten Bekanntschaft, sondern Zach organisierte die Zusammenkunft von 17 naturwissenschaftlich ausgewiesenen Teilnehmern und damit den ersten astronomischen Kongreß. Es war zugleich die erste internationale Konferenz über das metrische Maßsystem, die allerdings der politischen Verhältnisse wegen erfolglos bleiben mußte.
Eine internationale Zusammenarbeit auf wissenschaftlicher Ebene wurde gleichwohl praktiziert und von Zach im September 1800 sogar institutionalisiert. Er gründete mit Schroeter die "Vereinigte astronomische Gesellschaft". Die Mitglieder verpflichteten sich zur Teilnahme an einem Gemeinschaftsunternehmen, nämlich nach dem "fehlenden", aufgrund der Titius-Bode-Reihe vermuteten Planeten zwischen Mars und Jupiter systematisch entlang der Ekliptik zu suchen. Piazzi hatte sein Mitgliedsdiplom noch nicht erhalten, als er die Ceres entdeckte. Die nächsten drei Planetoiden Pallas, Juno, Vesta wurden freilich von den Mitgliedern Olbers, Ludwig Harding und erneut Olbers aufgefunden. Die Planung der Durchmusterung der Ekliptik diente als Vorbild, als im 19. Jahrhundert vollständigere Sternkarten erarbeitet wurden.
Nach dem Tode seines Gönners, des Herzogs Ernst II., verließ Zach die Seeberger Sternwarte und bezog in Begleitung der Herzogin wechselnde Wohnsitze im damals thüringischen Schloß Eisenberg, in Marseille und in Genua. In dieser Zeit veröffentlichte er die meisten seiner großen Tafelwerke, die Tafeln zur Aberration und Mutation (1806 bzw. 1812), die Mondtafeln (1812), vor allem aber sein umfangreiches Werk zur Anziehung der Berge (1814). Diese Anziehung hatte die Lotabweichung, das heißt die Ablenkung des Lotes, zur Folge, eine Erscheinung, die er nach Maskelyne als einer der Ersten nachwies.
Nach dem Tode der Herzogin im Jahre 1827 lebte er aus gesundheitlichen Gründen weitgehend in Paris, wo er 1832 an der Cholera verstarb.
Eberhard Knobloch
Zur Lektüre: Astronomie der Goethezeit, Textsammlung aus Zeitschriften und Briefen Franz Xaver von Zachs, ausgewählt und kommentiert von Peter Brosche. 2. überarb. Aufl. Frankfurt/M. 1998.
Mit diesem merk-würdigen, das Denken herausfordernden Satz beginnt Johann Gottfried Herder seine in der öffentlichen Akademiesitzung am 6.6.1771 preisgekrönte Schrift "Über den Ursprung der Sprache".
Herders Abhandlung bildet den Schlußpunkt einer die Akademie mehrere Jahrzehnte beschäftigenden Auseinandersetzung über den Sprachursprung. Sein Hinweis auf die evolutionären Prozesse von Sprachentstehung und Sprachwandel bot der Sprachforschung eine grundlegend neue und fruchtbare Perpektive.
Preisgekrönte Schrift
Anlaß für die Preisfrage war eine in der Akademie 1756 entbrannte Auseinandersetzung. Begonnen hatte sie mit einem Aufsatz von Maupertuis, in dem eine rationalistische Erklärung des Ursprungs der Sprache aus tierischen Naturlauten vorgeschlagen wurde. Dies ungeheuere Ereignis veranlaßte das Ordentliche Mitglied Johann Peter Süssmilch zu einer am 7. und 14.10.1756 verlesenen ausführlichen Abhandlung. In ihr formulierte Süssmilch eine scharfe Antithese zur Auffassung des Akademiepräsidenten: "Die Sprache ist ein unmittelbares göttliches Geschenk."
Es war gewiß eine den Akademiefrieden sichernde Idee, die gelehrte Welt um Antworten zu bitten. Auf die ausgeschriebene Preisaufgabe gingen 31 Schriften ein. Unter den Autoren waren so bekannte Persönlichkeiten wie Herder, Tetens, Tiedemann und Jerusalem (Hamann).
Der schließlich gekürte Preisträger Johann Gottfried Herder hat in seiner Abhandlung die Behauptung von Süssmilch ebenso entschieden zurückgewiesen wie die bis dahin in der Akademie vorherrschende Ansicht widerlegt, die Sprache sei eine "Erfindung", also eine künstlich geschaffene logische Konstruktion des Menschen.
Das Thema Sprachursprung hat die Akademie im übrigen nicht losgelassen. Grimm im 19. Jahrhundert und Schuchardt am Anfang des 20. Jahrhunderts haben das Thema aufgegriffen. Fasziniert von den neuen Befundenden in Linguistik, Evolutionsbiologie, Genetik, Kognitionspsychologie und Paläoanthropologie hat die Berlin-Brandenburgische Akademie diese Tradition mit einer interdisziplinären Konferenz im Jahr 1999 fortgesetzt.
"Wie viel ich diesem würdigen Manne schuldig geworden, beweist mein Büchlein in allen seinen Theilen", rühmt Goethe im Prosateil seines West-Östlichen Diwans den österreichischen Orientalisten Joseph von Hammer (der später durch Erbschaft eines heimgefallenen steirischen Adelstitels zum Freiherr von Hammer-Purgstall avancieren sollte). Goethe hatte 1814 von seinem Verleger Cotta die soeben erschienene Hammersche deutsche Fassung der Gedichtsammlung des berühmten mongolenzeitlichen persischen Dichters Hafis erhalten. Dankbar gedenkt Goethe des Übersetzers und der von Hammer seit 1807 herausgegebenen monumentalen Zeitschrift "Fundgruben des Orients", in der alles erdenkliche Orientalische in reichen und üppigen Folgen vorgelegt wurde: Altes und Neues, Arabisches und Türkisches, Persisches und Hindustanisches, vorislamische Beduinenpoesie und ein Klagelied des 1807 entthronten Osmanensultans Selim III., die kommentierte Übersetzung mittelalterlicher islamischer astronomischer Werke und ein arabisches Huldigungsgedicht auf Napoleon, Pyramiden- und Sphinxpoesie aus dem mittelalterlichen Ägypten und der Wortlaut der Ansprachen, die beim Empfang eines iranischen Botschafters in Wien gehalten wurden - all diese Textsorten fanden hier wie in einer klassischen arabischen Blütenlese gleichberechtigt zusammen und wurden einer breiten Öffentlichkeit vorgelegt.
Diese grandiose Kompilation ebnete Goethe den Zugang zur Welt des Islams. Gewiß, so schreibt er weiter in seiner Eulogie auf Hammer, "... muß ich gestehen, daß mich diese wichtige Sammlung noch schneller gefördert hätte, wenn die Herausgeber, die freylich nur für vollendete Kenner eintragen und arbeiten, auch auf Laien und Liebhaber ihr Augenmerk gerichtet und, wo nicht allen, doch mehreren Aufsätzen eine kurze Einleitung, über die Umstände vergangner Zeit, Persönlichkeiten, Localitäten, vorgesetzt hätten; da denn freylich manches mühsame und zerstreuende Nachsuchen dem Lernbegierigen ware erspart geblieben". Ihn störte also die hermetische Wissenschaftlichkeit einiger der Kontributoren zu den "Fundgruben".
Wobei er an Hammer selbst gar nicht einmal an erster Stelle gedacht haben mag. Denn dieser war kein pedantischer Philologe, eher ein unglaublich vielseitiger, höchst sprachgewandter und gebildeter Autor, Kompilator und Übersetzer, dem es wichtig war, von den Zeitgenossen verstanden und weitervermitttelt zu werden. Diesem Zweck sollte auch die möglichst text-, bild- und nötigenfalls reimgetreue Wiedergabe der von ihm übertragenen orientalischen Quellen dienen. Hammer glaubte an ein eigenes dichterisches Können und überreich ist sein eigenes literarisches Oeuvre. Ob er Goethes nachgelassene bissige "Invektive" je zu Gesicht bekam: "Von Hammer merkt nun wohl, daß, um Poet zu sein/Er sich dem Teufel hätt' ergeben müssen", ist allerdings nicht überliefert.
Joseph von Hammer wurde am 9. Juni 1774 in Graz als Sohn eines Gubernialrates geboren. Von 1789 bis 1799 wurde er an der von Kaiserin Maria Theresia 1754 gegründeten Orientalischen Akademie ausgebildet. In diesen jungen Jahren schon verdiente er seine Sporen als Mitbearbeiter einer Neuauflage des damals gängigen Arabisch-Persisch-Türkisch/Lateinischen Wörterbuchs. Hammers ungewöhnliches Sprachtalent förderten frühe Aufenthalte im Orient. 1799 reiste er erstmals als sogenannter "Sprachenknabe" (so wurden die Zöglinge der genannten Orientalischen Akademie bei ihrer ersten Anstellung genannt) nach Konstantinopel. Türkisch beherrschte er bald fließend. In der Sultansstadt nahm er aber auch bereits Arabisch- und Persischunterricht und sollte auch in diesen beiden anderen Islamsprachen, namentlich der letzteren, reüssieren. Kennzeichnend für seinen Bildungshorizont war die persische Übersetzung, die er von den griechischen Betrachtungen des Marcus Aurelius Antoninus ins Persische anfertigte; es war sein Trachten, wie er in seinen Erinnerungen schrieb, auch persönlich dazu beizutragen, wie der notwendigen Rückwirkung westlicher klassischer Bildung auf die östliche gedient werden könne. Der Orientalist Friedrich Rückert, dessen Poetik und Rhetorik der Perser noch heute Maßstäbe setzt (und dessen einfühlsame Koranübersetzung in den letzten Jahren wieder zu Ehren gelangt ist), wurde von Hammer ins Persische eingeführt.
1800 gelangte Hammer unter merkwürdigen Umständen auf einer englischen Fregatte in das von Frankreichs Gouverneur Menou verwaltete Ägypten und wurde Zeitzeuge der Geschehnisse, die, wie es noch immer gerne gesehen wird, den ersten, schüchternen Eintritt nicht nur Ägyptens in die westlich dominierte Moderne markieren. In Kairo lernte er die Geschichten aus Tausendundeiner Nacht aus erster Hand kennen; bislang unbekannte Teile dieses Volksbuchs übersetzte Hammer ins Französische, die deutsche "Weiter"übersetzung überließ er anderen. Die nächsten Stationen in seiner Laufbahn waren England, Stambul und die Moldau, in deren Hauptstadt Jassy Hammer 1806 als "Kaiserlicher Agent" diente.
Bedeutend für seine spätere Wissenschaft waren namentlich die vier Jahre, die er als Legationssekretär am Bosporus wirkte. Hier wurden die Fundamente für sein gewaltiges Lebenswerk, oder präziser: diejenigen seiner Opera gelegt, die seinen gelehrten Ruhm bis zum heutigen Tage begründen: Seine von hoher Abstraktionskraft und zugleich pedantischer Detailbesessenheit gekennzeichnete, 1815 zu Papier gebrachte zweibändige Abhandlung über die "Staatsverfassung und Staatsverwaltung des Osmanischen Reiches" und die gewaltige (in einer späteren Ausgabe etwas gekürzte) zehnbändige "Geschichte des Osmanischen Reiches", die 1827-33 bzw. 1834-5 in Pest erschien. Gerne würde ich noch seine Übersetzung des ersten Bandes des Reisebuchs des osmanischen Globetrotters Evliya Celebi, eine bis in unsere Tage maßgebliche textwissenschaftliche Leistung, als drittes großes Werk zur Osmanistik hinzufügen, das gerade in Österreich eine bis heute fortwährende eindrucksvolle Wirkungsgeschichte entfalten sollte. 1809,
im Jahr der politischen Katastrophe, hielt sich Hammer wieder in Wien auf. Als die französischen Besatzer die orientalischen Bestände der Wiener Hofbibliothek zu plündern begannen, gelang es Hammer, auch durch Fürsprache Silvestres de Sacy, des von Napoleon in hohen Ehren gehaltenen Doyens der arabischen Studien in Frankreich, wenigstens einen Teil für Wien zu retten. '
Die langen, nach außen hin so geruhsamen Friedensjahre bis zu Hammers Tod im Jahre 1856 waren durch eine schier unglaubliche wissenschaftliche Produktivität des 1817 zum Hofrat und 1825 in den erblichen Ritterstand berufenen, jedoch während der ganzen Jahre von seinen Beamtenpflichten (von 1811 bis 1836 war er Hofdolmetscher) weitgehend freigestellten Hammer gekennzeichnet. Über hundert Bücher stammen aus seiner Feder. In allen drei Islamsprachen hat er sich, wenn auch, wie schon angesprochen, mit unterschiedlichem Erfolg getummelt. Seine Übersetzungen von Teilen der altarabischen sogenannten Hängegedichte (Mu'allaqât), vorislamischer Dichtungen, die an der Wiege der arabischen Literaturgeschichte stehen und wegen ihrer zeitlichen Nähe zur koranischen Offenbarung auch als sprachliches Zeugnis hochbedeutsam geworden sind, wurden zum wissenschaftlichen Skandal. Wie gut, daß sich Goethe bei dieser von ihm besonders geschätzten Quelle nicht auf Hammer gestützt hat. Dessen Übertragungen waren rasch und oberflächlich gefertigt und - durchaus auch wegen der Hammer zur Verfügung stehenden unzureichenden lexikalischen Hilfsmittel - philologisch völlig mangelhaft. Die sich in Deutschland in der Nachfolge des genannten Pariser Orientalisten Sylvestre de Sacy formierende streng philologische Schule um Heinrich Leberecht Fleischer in Leipzig und Heinrich Ahlwardt in Greifswald ließ an den Hammerschen Übersetzungen aus dem Arabischen kein gutes Haar. Die penible Edition und Übersetzung von ungemein schwierigen Texten war nicht sein Geschäft; dafür fehlten ihm Muße und Stetigkeit. Immer winkte ein neues Vorhaben, dem er sich verschrieb, bevor er mit dem alten zuende gediehen war. Aber ohne diese Unrast hätte er nicht die Öffnung des Orients für die gebildeten Leserschaften seiner Zeit - weit über die deutschsprachigen Lande hinaus - in solcher Fülle bewirkt. Österreich kann stolz sein auf seinen Landsmann, mit dessen Namen und Vorbild das hohe Ansehen der Wiener Osmanistik bis zum heutigen Tage verbunden bleibt.
Anlaß für diese Skizze ist die Ehrenmitgliedschaft Hammers in der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Diese Auszeichnung war eine von vielen. Sie mag aber, darüber habe ich nichts erkunden können, seine ab 1835 intensiv betriebene Planung befördert haben, nach dem Vorbild anderer europäischer wissenschaftlicher Akademien auch in Wien eine solche ins Leben zu rufen. 1847 war es soweit, Hammer wurde erster Präsident. Daß er schon kurz danach wegen unerquicklicher Streitereien mit den Akademiekollegen über die Drucklegung einer seiner Übersetzungen von dem Amte des Akademiepräsidenten zurücktrat, macht ihn uns nicht unsympathischer, zumal er der Akademie in den Folgejahren immer loyal verbunden blieb. Besonders hing er bis ins hohe Alter aber nach allem, was wir wissen, an der Akademie seiner Jugend, der Wiener "Orientalischen Akademie", deren Hundertjahrfeier er 1854, zwei Jahre vor seinem Tode, noch festlich mitgestaltete und der er die besondere, Jetzt und Vergangenheit des lebendigen Orients gleichermaßen würdigende exzellente Ausbildung verdankte, die ihn zum unverändert aktuellen Wegbereiter auch gegenwartsbezogener Orientstudien in der deutschsprachigen Welt werden ließ. Seinen Grabstein ließ er bereits 1819 orientalisch herrichten; Inschriften vielfältigster Schrift und Sprache ließ er darauf verzeichnen. Das Geld für dieses aufwendige Monument hatte er in einer für ihn typischen Weise verdient. Als er den persischen Gesandten in Wien versiert zur kaiserlichen Audienz geführt hatte, erhielt er ein edles Pferd als Geschenk, das er für hundert Dukaten verkaufte. Mit diesem Geld finanzierte er die Grabstele, die dem Vernehmen nach auch heute noch in aller Pracht zu sehen ist.
Ulrich Haarmann (22.9.1942 - 4.6.1999)
"Wir wollen auch dasjenige, so von dergleichen Vorschlägen und Wercken ... an Uns etwan gebracht wird, der Societaet zukommen und communciren lassen, ... das Gute aber in die Acta gebracht, auch verwahret und beybehalten und nicht, wie es sonst mit vielen nützlichen Erfindungen und Concepten ergangen, verlohren oder vergessen werde" (1),
Derzeit umfaßt der Gesamtbestand des Archivs über 6.000 laufende Meter dienstliches und Nachlaßschriftgut aus 300 Jahren Akademiegeschichte. Die Bestände verteilen sich auf vier Abteilungen: die "Historische Abteilung", "Akademiebestände nach 1945", "Nachlässe" von Akademiemitgliedern sowie "Sammlungen", in denen neben anderem auch über 1.800 Kunstgegenstände und 40.000 Fotos verwahrt werden.
(1) Zit. nach: A. Harnack, Geschichte der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Berlin 1900, II:105.
Ein Anwalt der "kleinen Völker"
Mit František Palacký hat die Berliner Akademie der Wissenschaften am 27. Februar 1845 den sprachgewaltigsten und gedankenreichsten böhmischen Geschichtsschreiber des 19. Jahrhunderts in ihre Reihen aufgenommen. Seine Biographie zeigt, daß die Rolle der "großen Historiker" in der Emanzipationsgeschichte der "kleinen Völker" Europas zu den lehrreichsten, aber weiterhin klärungsbedürftigen Kapiteln der Geschichte der Geschichtswissenschaft - und nicht nur dieser - gehört.
Das Lebenswerk František Palackýs - ein Böhme slavischen Stammes, wie er sich selbst nennt - steht in der Spannung von quellenkritischer Grundlagenarbeit, die allem Geschichtsdenken vorausgeht, und sinnstiftender Erzählung von der Mission des tschechischen Volkes für Demokratie und Freiheit. Im Jahr 1836 begann Palackýs Hauptwerk, die "Geschichte von Böhmen", in deutscher Sprache zu erscheinen.
Was der bloße Titel nicht vermuten läßt, offenbart die Darstellung selbst in vollem Umfang: Es ist die Geschichte des tschechischen Volkes und nicht die des binationalen Landes. Folgerichtig hieß dann auch 1848 die tschechische Version des Werkes "Geschichte des tschechischen Volkes in Böhmen und Mähren". In zwei epochalen Aufgipfelungen manifestiert sich bei Palacký die historische Mission der Tschechen. Das war zum einen die vorstaatliche Frühzeit, die als slavische Urdemokratie verstanden wird, welche noch von keinerlei Ständeunterschieden, Privilegien, vor allem noch nicht von den Deutschen beeinträchtigt war. Hier war die bürgerliche Zukunftserwartung von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit gleichsam in die Anfänge der tschechischen Geschichte eingeschrieben. Als zweiten Gipfel sieht Palacký die große Epoche der hussitischen Revolution an, in der die slavische Freiheit ihre Sublimation im Glauben fand. Jetzt kam auch der deutsche Faktor der böhmischen Geschichte als Antipode ins Spiel, denn die Hussiten machten mit ihrem Kampf gegen ständische Unterschiede und rechtliche Ungleichheit zuvörderst gegen den deutschen Feudalismus und die Autorität der Römischen Kirche Front. In der Kontrastierung der mildtätigen und friedliebenden slavischen Tschechen mit den eroberungssüchtigen und kriegerischen Deutschen folgte Palacký ganz der Herderschen Lehre in den "Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit", wo der Weg der Slawen von der friedlichen Landnahme über die Unterdrückung durch die Deutschen und die Bedrohung durch die Mongolen bis zur zukünftigen Erweckung aus der finsteren Nacht der Knechtschaft vorgezeichnet ist.
So vereinigt sich bei Palacký wie bei Herder Aufklärungsglaube mit idealistischer Geschichtsauffassung und der Lehre vom Volksgeist, trotz aller kritischen Forschungsarbeit an den Quellen, die lange im Vordergrund stand. Der Volksgeist aber findet seinen höchsten Ausdruck in der Idee, für die sich ein Volk berufen fühlt. Bei den Tschechen ist das nach Palacký die Mission, das Mittelalter in Frage zu stellen und zu vollenden, was "mit dem in Konstanz entzündeten Scheiterhaufen" (Richard Plaschka) begonnen worden war.
Das Hussitenproblem in seiner ganzen Geschichtsmächtigkeit bis in die Gegenwart war Palacký bewußt geworden, als er 1823 nach Prag kam, in die Stadt, die ihn bis zum Ende seines Lebens nicht mehr losgelassen hat. Hier wurden die jugendbiographischen Impulse - die religiöse Herkunft aus der Böhmischen Brüdergemeinde, die Wirkung der Schriften Josef Jungmanns, das Geschichtsstudium unter dem Einfluß Heinrich Ludens und englischer Geschichtsschreiber, schließlich die Begeisterung für den polnischen Freiheitskampf Kościuszkos - in die wissenschaftliche Professionalität überführt. Seine Mäzene, die Grafen Franz und Kaspar Sternberg, vermittelten Palacký schließlich die offizielle Anstellung als "Historiograph der böhmischen Stände", die er 1831 antrat, eben mit dem Auftrag, jenes große Geschichtswerk über Böhmen zu schaffen.
Das erforderte neben vorbereitenden und begleitenden Studien und Forschungsreisen auch Editionen, wie z.B. die "Alten böhmischen Chroniken 1378 - 1527" oder die "Würdigung der alten böhmischen Geschichtsschreiber von Cosmas bis Hajek", wie die "Quellen aus den vatikanischen Archiven" oder die Urkunden-Serie "Tschechisches Archiv". Sie haben Palacký die Anerkennung und Bewunderung der wissenschaftlichen Welt eingebracht; auch die Wahl zum Korrespondierenden Mitglied in Berlin ist dazu zu rechnen. Dabei hat er sein Leben lang jene aufsehenerregenden Handschriftenfälschungen für echt gehalten, mit denen Vaclav Hanka und andere eine ideale böhmische Frühzeit aus romantischen Geist erfunden hatten. Erst nach Palackýs Tod sind diese Phantasien als Falsifikate entlarvt worden.
Seiner großen praktischen Bewährungsprobe sah sich Palackýs Geschichtsdenken im Revolutionsjahr 1848 ausgesetzt. Gerade war der erste Band der tschechischen Ausgabe der "Geschichte des tschechischen Volkes" erschienen, in deren Einleitung dem tschechisch-deutschen Gegensatz auch das Postulat der Versöhnung der beiden Völker Böhmens gegenübergestellt worden war. Doch in dem stürmischen Jahr schien eher die genaue Definition des Gegensatzes gefragt zu sein. Sie ist Palacký nirgendwo klarer gelungen, als in seinem Absagebrief vom 11. April 1848 an den Fünfziger-Ausschuß der Paulskirche. Als "Böhme slavischen Stammes" - also als Tscheche - müsse er sich einer Politik versagen, die zu einer entscheidenden Schwächung des österreichischen Kaiserstaates führen würde. Dessen Fortbestand war - trotz der inneren Aushöhlung des föderativen Reichsgedankens - in Palackýs austro-slavistischem Verständnis noch immer der sicherste Lebensrahmen des tschechischen Volkes und der anderen Völker des Donauraums. So erklärt sich das berühmte Diktum: "Wahrlich, existierte der österreichische Kaiserstaat nicht schon längst, man müßte im Interesse Europas, im Interesse der Humanität selbst sich beeilen, ihn zu schaffen". Das war sowohl gegen eine großdeutsche Umklammerung gesprochen als auch gegen die Bedrohung durch Rußland, die im Vormärz allgemein als stark empfunden wurde: "Denken Sie sich", so schreibt er an die Frankfurter, "Österreich in eine Menge Republiken und Republikchen aufgelöst, - welch ein willkommener Grundbau zur russischen Universalmonarchie." Indes, die national entflammte böhmische Metropole rief die slawischen Völker der Monarchie im Revolutionssommer 1848 zum Slawenkongreß. Palacký fungiert - mit Zögern - als Präsident. Mehr war für ihn später im Jahr im Reichstag von Wien und Kremsier auszurichten, wo er um die konstitutionelle Sicherung einer national gegliederten Monarchie kämpfte. Er hielt es für eine Frage von universeller Bedeutung, daß "in der Einheit des Menschengeschlechts nicht dessen Mannigfaltigkeit gänzlich zugrunde gehe".
Die Gliederung in autonome Nationalgruppen stand in diesem Moment über dem historischen Recht der Länder, also auch über dem Böhmischen Staatsrecht. In Böhmen stieß das auf strikte Ablehnung, aber auch in Ungarn, wo Palacký Entsprechendes im Auge hatte. Denn er sah mit Sorge die Gefahren der dualistischen - österreichisch-ungarischen - Zuspitzung des Verfassungsproblems in der Donaumonarchie heraufziehen, was ihn 1865/66 zur Zurücknahme seiner nationalen Visionen im Interesse der österreichischen Staatsidee bewog. Der sogenannte Ausgleich von 1867 bestätigte seine schlimmen Befürchtungen. Das ließ ihn in den letzten Lebensjahren sogar mit dem Panslawismus sympathisieren, in der Gewißheit, "das nach langem und hartem Kampfe der Slave, als schließlicher Sieger, den Feinden gegenüber ein gerechteres und edleres Verfahren einschlagen wird, als es bei Mongolen, Magyaren und Deutschen der Fall war". So klangen am Schluß wieder die Herderschen Ideen auf. Am 26. Mai 1876 ist František Palacký gestorben. Es soll ein Begräbnis gewesen sein, wie Prag es seit den Zeiten Karls IV. nicht mehr gesehen hatte.
Klaus Zernack
Schon mehrfach wurden auf unseren Kalenderblättern die Vorschläge des ersten Präsidenten zur Finanzierung der wissenschaftlichen Vorhaben seiner Akademie vorgestellt - allesamt zeugen sie von Leibniz' reger unternehmerischer Phantasie. Die alteuropäischen Beharrungskräfte setzten freilich auch den im Juni/Juli 1700 vorgeschlagenen fünf Privilegien harten Widerstand entgegen.
"1. Die Societät soll eine teutsch-liebende und -pflegende Gesellschaft sein, also ist es gestattet, eine Steuer auf Reisen in's Ausland zu legen und sie pro re Germanica zu Gunsten der Societät zu verwenden; 2. die Societät soll die mechanischen Wissenschaften praktisch fruchtbar machen, also ist es angemessen, dass sie das Feuerlöschwesen, die Beschaffung vorzüglicher Feuerspritzen u.s.w. für das ganze Land besorgt und pro re mechanica den Überschuss einer obligatorischen Feuerkasse, die sie leitet, empfängt".
Diese beiden Einkunftsquellen fand auch der Kurfürst vorteilhaft und unterzeichnete die Privilegienurkunde eilig. Allein die schönsten Pläne fruchten zuweilen nichts. Jedenfalls haben diese beiden Projekte der "Societät nie einen Pfennig eingebracht". (1)
Gar nicht eingeführt wurden die drei weiteren Geschäftsideen - womit denn die Probe verhindert war, ob Leibniz ein ebenso erfolgreicher Unternehmer wie Philosoph hätte werden können:
"3. die Societät soll Missionen in heidnische Länder ausrüsten, also ist es billig, dass der Klerus und die milden Stiftungen pro missionibus et propaganda per scientias fide zu Gunsten der Societät etwas beitragen; 4. die Societät soll das Bücherwesen überwachen, daher soll sie pro re literaria, sowohl die Censur (auch an Präventiv-Censur, 'soweit es thunlich', ist gedacht), die sie ausübt, bezahlt bekommen, als auch von den eingeführten Bücherballen etwas erhalten; ferner soll ihr ein Privilegium generale perpetuum für die Abfassung aller Schulbücher und die Oberaufsicht über die im Lande vorkommenden Auctionen und Lotterien zuerkannt werden; 5. der Societät soll das Recht einer Lotterie ertheilt werden, weil 'ihr Vorhaben nicht leicht einiger piae causae nachgiebt'." (2)
(1) Zit. nach: A. Harnack, Geschichte der Kgl. Preussischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Berlin 1900, I.1: 90/91.
(2) Ebd.
"Da er der Regierung wegen seiner Gesinnung suspekt war, führte er ein zurückgezogenes Leben; um die Zeit totzuschlagen, lernte er alle Sprachen, ja selbst Volksmundarten der Erde. ... Eine seiner Töchter sprach Altgriechisch ebensogut wie Neugriechisch, und wenn man einen guten Tag erwischte, hätte man sich bei Tisch wohl auf Sanskrit unterhalten können".
Etwas Sinnloseres, als die Sprachen wilder Völker und Volksklassen zu studieren und so lächerliche Sprache wie Alt- und Neugriechisch oder gar Sanskrit zu sprechen - deviser à table en sanskrit -, konnte sich der französische Dichter und Diplomat Chateaubriand offensichtlich gar nicht vorstellen, der sich in diesem Bericht von seinem Berlin-Aufenthalt im Jahr 1821 köstlich über Wilhelm von Humboldt amüsiert. Natürlich wurde bei Humboldts kein Sanskrit bei Tisch gesprochen, sondern manchmal italienisch, denn in Rom hat die Familie so lange gelebt, daß das Italienische eine Art Familiensprache geworden war. In der Tat aber war Humboldt Ende 1819 aus seinem Ministeramt und damit für immer aus der aktiven Politik ausgeschieden und widmete sich nun draußen in Tegel dem, was er sich schon zwanzig Jahre vorher vorgenommen hatte und wovon ihn seine politischen Ämter immer wieder ferngehalten hatten, dem Studium der Sprachen der Menschheit. Ein sichtbareres Zeichen für die politische Kaltstellung als dieses verrückte Sprachenstudium in Tegel war für den französischen Botschafter nicht denkbar.
Außer Schadenfreude drückt der Bericht des mondänen Chateaubriand, der sich im provinziellen Berlin grauenhaft gelangweilt hat, das ganze Unverständnis aus, das ein Vertreter der damaligen mainstream-Kultur für ein solches Projekt haben konnte. Es ist ein mehrfaches Unverständnis - das sich seinerseits als extrem provinziell erweisen sollte. Erstens versteht Chateaubriand überhaupt nicht, warum sich ein Mitglied der höheren Klasse eines zivilisierten europäischen Volkes mit den Sprachen niederer Klassen und wilder Völker beschäftigt: ein mit Klassen- und Ethnodünkel gepaartes Unverständnis der philosophischen Bedeutung einer Erforschung der Vielfalt der menschlichen Sprache. Zweitens versteht Chateaubriand nicht, warum es interessant sein kann, Sanskrit zu studieren: ein Unverständnis für das Erkunden der historischen Tiefe der Sprache. Zugrunde liegt beidem ein Unverständnis dafür, daß sich jemand überhaupt mit Sprache denkend auseinandersetzt. Was ist denn schon dran an der Sprache? Sprache ist für Chateaubriand nämlich nach der alten - seit den Griechen bis heute - herrschenden Auffassung doch nur ein sekundäres Mittel zur Kommunikation des vorsprachlich Gedachten. Das Wichtige, das Eigentliche, eben der Gedanke, liegt hinter oder vor der Sprache. Sprachen zu studieren kann also gar nichts anderes sein als leere Zeit totzuschlagen.
Doch Humboldt ist nicht nur dem Lächeln des alteuropäischen Aristokraten ausgesetzt, wenn er sich in Tegel dem Studium der Sprachen der "Wilden" hingibt - er studiert anfangs ja vor allem die Sprachen der amerikanischen Indianer, über die er ein großes Buch plant. Auch die an den Universitäten erstmals berufsmäßig etablierten Sprachwissenschaftler fremdeln zunehmend angesichts dessen, was der Politiker und adlige Herr da vor der Stadt treibt. Die professionellen Sprachwissenschaftler beschäftigen sich nämlich so gut wie ausschließlich mit dem Sanskrit und vergleichbaren alten Sprachen, also mit der Vergangenheit der indo-europäischen Sprachen. Und über der Rekonstruktion der sprachlichen Einheit des Kontinents oder der Nation entrückt ihnen Humboldts kosmopolitische Auseinandersetzung mit der schönen Vielfalt des menschlichen Geistes in seinen Sprachen. Dem Prestige-Druck dieses neuen, professionellen Paradigmas hält auch Humboldt nicht stand: Während er anfangs sein großes Projekt einer Beschreibung der Sprachen der Welt unabhängig von der gerade entstehenden historischen Sprachwissenschaft entwirft, wendet er sich später - lange nach Chateaubriands Berlinaufenthalt - tatsächlich dem Sanskrit zu, kommt von dort zu den malayo-polynesischen Sprachen und versucht dann, seine Untersuchung der Sprachen der Südsee dem Modell der historisch-vergleichenden Grammatik anzupassen, wie es Jacob Grimm und Franz Bopp gesetzt hatten.
Die Berliner Akademie ist übrigens von 1820 bis zu Humboldts Tod der exklusive Ort für die öffentliche Mitteilung seiner Sprachforschungen. Aber dennoch läßt sich Humboldts Projekt nicht auf das Format der historischen Linguistik zurückstutzen. Humboldt bleibt ja bei den Sprachen der "Wilden", und er bleibt der philosophischen Annäherung an die Sprachen treu: Bevor er zu den Lauten, der Morphologie und der Syntax der Sprachen der Südsee gelangt, schreibt er nämlich erst einmal eine Einführung, die - sein lebenslanges Nachdenken über die Sprache zusammenfassend - die Erforschung der Sprache philosophisch begründet. Genau das, was Chateaubriand nicht verstanden hatte, nämlich warum man sich überhaupt mit den Sprachen wissenschaftlich beschäftigen muß, das wird in dieser Einführung zu dem sogenannten Kawi-Werk gesagt. Es ist ganz einfach: die Sprache ist das "bildende Organ des Gedanken", nicht mehr und nicht weniger. Der Mensch erzeugt sein Denken zusammen mit der Sprache, als Sprache. Es ist nicht so, daß man zuerst denkt und dann das Gedachte mit völlig gleichgültigen Lauten äußert und mitteilt (dann wären die Sprachen in der Tat nur gleichgültige Schälle), sondern die Produktion der Gedanken der Menschen findet im Medium der Sprache statt. Deswegen also - weil die Sprachen der Menschheit der Geist der Menschheit sind, ein Geist, der sich in Tausenden von verschiedenen Sprachen manifestiert, in einer wunderbaren Vielfalt unseres Geistes, wie Leibniz geschwärmt hatte - deswegen ist es nötig, die Sprachen, alle Sprache der Menschheit zu studieren, auch die der niederen Klassen und "wilden" Völker (die in ihren Sprachen eben auch diese Arbeit des Geistes leisten und nicht nur "barbarisch" grunzen, wie die alteuropäische Tradition meinte).
Nachdem die Sprachwissenschaft sich auf den Spuren von Grimm und Bopp ein Jahrhundert lang hauptsächlich in die historischen Tiefen der Sprache gestürzt hatte - Sanskrit gesprochen wurde wohl auch an den Tischen dieser Linguisten relativ wenig - hat sie im zwanzigsten Jahrhundert gerade Humboldts Projekt einer "kompletten Enzyklopädie" der Sprachen der Menschheit weitgehend realisiert. Die "Arbeit des Geistes", die sprachliche Artikulation in den verschiedenen Sprachen der Menschheit, ist durch die Entfaltung deskriptiver Linguistik in diesem Jahrhundert in all ihrer Vielfalt deutlich geworden.
Humboldts eigene Versuche, Grammatiken und Wörterbücher der verschiedensten Sprachen der Welt zu erstellen, werden erst jetzt in der im Schoeningh Verlag erscheinenden Akademie-Ausgabe der sprachwissenschaftlichen Schriften Humboldts den Lesern zugänglich gemacht. Seine Mexikanische Grammatik und das Mexikanische Wörterbuch sind schon erschienen. Humboldt wird damit endlich nicht nur als Sprach-Philosoph, sondern auch als deskriptiver Sprach-Wissenschaftler sichtbar, als der er sich immer verstand. Dies dürfte auch das einseitige Bild vom Universitätsgründer und Politiker Humboldt verändern. Die Universitätsgründung hat ihn ja nur ein paar Monate seines Lebens beschäftigt. Politiker war Humboldt elf Jahre lang. Die Sprachen aber haben ihn fünfunddreißig Jahre lang und die letzten fünfzehn Jahre seines Lebens so gut wie ausschließlich beschäftigt. Und wir verdanken nicht zuletzt diesem lebenslangen "vergleichenden Sprachstudium" die heutigen linguistischen Einblicke in den Geist der Menschheit.
Dennoch ist es natürlich erlaubt darüber zu spekulieren, was aus Preußen und Deutschland geworden wäre, wenn Humboldt sich nicht zum Sprachenstudium nach Tegel hätte zurückziehen müssen, wenn der liberale Humboldt 1820 preußischer Staatskanzler geworden wäre, wenn also der französische Diplomat Chateaubriand 1821 keine Gelegenheit gehabt hätte, sich über den bei Tisch Sanskrit parlierenden Humboldt zu mokieren. Vermutlich würden wir dann heute lieber deutsch statt englisch reden, bei Tische und anderswo: deviser à table en allemand.
Jürgen Trabant