von Roland Römhildt
Ein annähernd quadratisches, in seiner Figurenkomposition monumental wirkendes und in dunklen Farben gehaltenes Gemälde der Künstlerin Heidrun Hegewald hängt seit dem Frühsommer des Jahres 2023 im Aufgang zum Einstein-Saal der Akademie. Sein Titel: „Entropie, Sisyphos im Schoß“, gemalt 1988/89. Was hat es damit auf sich?
Bevor der lange Weg des Gemäldes an die Akademie nachgezeichnet wird, das erst nach 33 Jahren an seinen Bestimmungsort gelangte, sei zunächst auf die Motivik des Bildes eingegangen. Im Zentrum steht eine Gruppe von drei aufeinandersitzenden Figuren, von denen zwei im Titel erwähnt sind. Mittig findet sich die titelgebende, personifizierte Entropie, die als einzige Figur an wenigen Stellen farbig akzentuiert ist. Sie hat die mythische Gestalt des Sisyphos im Schoß, genauer: er liegt völlig ermattet über ihrem Bein. Im Mythos muss er als Strafe für seine Hybris – er hatte sich die den Göttern vorbehaltene Unsterblichkeit erschlichen – einen Felsblock einen Hang hinaufwälzen, der ihm kurz vor der erlösenden Bergkuppe jedoch immer wieder herunterrollt. Auf dem Bild balanciert der Felsblock hingegen, zumindest für einen Augenblick, auf der Spitze des Berges im Hintergrund.
Dieser prekäre Moment passt zur Figur der Entropie. Denn diese ist die Personifikation einer physikalischen Zustandsgröße, die mit dem zweiten Gesetz der Thermodynamik beschrieben wird: Kein Prozess erhält alle Energie, die in ihm umgesetzt wird, es gibt immer Reibungs- oder Wärmeverluste. Oft wird Entropie vereinfacht mit der Zunahme von Unordnung gleichgesetzt: Wird keine zusätzliche Energie, Arbeit oder Ähnliches in ein System investiert, wird es immer chaotischer, also entropischer (man denke an ein Zimmer, das immer unordentlicher und dreckiger wird, wenn man nichts dagegen tut). Auf das Bild bezogen: Ohne immer neue Arbeit wird der Fels sein prekäres Gleichgewicht nicht halten. Fraglich ist, ob Sisyphos in seinem abgebildeten Zustand es weiter schaffen wird.
Die dargestellte Entropie wird durch Sonden vermessen, sie bekommt Bluttransfusionen (oder wird ihr Blut entnommen?) – sie steht unter Beobachtung durch die moderne Wissenschaft. Sie ist eine Ressource, die ausgebeutet wird – wie die Arbeitskraft von Sisyphos. Wirklich halten kann sie ihn nicht, dafür sieht sie selbst zu ausgezehrt aus, fast apathisch. Ihre Armhaltung erinnert an den gekreuzigten oder schon toten Christus, der seine Wundmale präsentiert. Man könnte an das mittelalterliche Motiv eines Gnadenstuhls denken – wobei hier unklar bleibt, welche Figur die beiden anderen trägt. Der „Grund“ allen Seins bleibt unbenannt. Die Geste der nach oben und unten weisenden Daumen dieser Figur verdeutlicht noch einmal auf eine andere Weise, dass die Szene sich an einem Kipppunkt befindet. Es muss weitere Energie, weitere Arbeit investiert werden, damit kein negatives Szenario eintritt.
Von den Stichworten der Kipppunkte und der wissenschaftlichen Vermessung lässt sich der Bogen zu dem Gebilde in der linken oberen Ecke spannen. Was zunächst an ein esoterisches Symbol erinnert, erweist sich als die Aufsicht auf den Nordpol mitsamt einer Darstellung des Ozonlochs. Seine Entdeckung war in den Achtzigerjahren des 20. Jahrhunderts sicherlich das Symbol für globale ökologische Schäden durch menschliche Einwirkungen, die es wissenschaftlich zu beobachten und mit wissenschaftlicher Hilfe zu bekämpfen galt. Passend dazu schreibt Hegewald 1988 in einem Beitrag mit dem Titel „Am Anfang war der Schrei – sechs Visionen für eine Utopie aus alten Geschichten“ im Schweizer Literaturmagazin drehpunkt, der zusammen mit grafischen Arbeiten von ihr abgedruckt wurde, in denen ebenfalls eine personifizierte Entropie auftaucht: „Angesichts globaler Verknappung und Erschöpfung von Ressourcen und eines denkbar gewordenen Wärmetodes der Erde ist der Begriff Entropie von mir frei übertragen und personifiziert in einer Metapher für einen global-ökologischen Denkeffekt.“ Mit diesem Denkeffekt zielt sie, scheint es, auf die Prekarität allen Abarbeitens an den globalen ökologischen Krisen: Man muss sich überhaupt erst einmal bewusst werden, was für Grenzen dem Leben und den gesellschaftlichen Prozessen eingeschrieben sind, aber auch jeder Form des Umgangs mit solchen Grenzen – denn auch deren Wirkkraft ist begrenzt. Es gibt keine ideale Lösung. Was in den Achtzigerjahren ein relativ neues Thema war, das Abarbeiten an solchen Grenzen, stellt heute ja ein nur noch drängenderes Bündel von Herausforderungen dar. Hegewald berührt in ihrem Text zugleich die Notwendigkeit, trotz schnell einsetzenden Verzagens und trotz aller Widerstände immer wieder neu (vielleicht auch: anders) anzusetzen. Entsprechend formuliert sie in dem zitierten Text: „Entropie sinnt in des Rätsels Kreis und / will das Ende zum Anfang machen.“ Nach düsteren Formulierungen endet ihr Text denn auch in der Betonung von Freiheit, derer man sich, so sie dann eintrete, aber auch annehmen müsse. Freiheit impliziert Verantwortung zum und im Handeln. Der von Hegewald malend gebannte Denkeffekt täte wohl ebenfalls in einer Gegenwart gut, die zu oft mit den immer gleichen Rezepten versucht, die zunehmenden Krisen zu bekämpfen. Das düstere Bild birgt folglich zwar keine einfach verdauliche Botschaft, aber eröffnet zumindest so etwas wie einen heilsam ernüchternden Blick auf die Verhältnisse: Die Lage ist sehr ernst, ja bedrohlich, sie kann in verschiedene Richtungen kippen, aber man kann – mahnender gesprochen: muss – dies wissen und damit umgehen lernen, selbst wenn es unendliche Kräfte kosten mag. Sisyphos wird sich wieder aufraffen und seinen Teil beitragen. Diese Zuversicht äußert Hegewald selbst, die sich nicht als Pessimistin sieht, sondern als Realistin. Dies drückt sich sowohl in der Wahl der Mittel ihres künstlerischen Ausdrucks aus, die immer figürlich geblieben sind, wie auch in der in ihnen sich manifestierenden Weltsicht.
Religiöse, mythische und wissenschaftliche Motive, wie sie in das Gemälde Eingang finden, tauchen immer wieder in Hegewalds OEuvre auf. Das nun endlich an der BBAW ausgestellte Werk wurde 1988 angekauft, nachdem Hegewald bereits – ohne Auftrag – begonnen hatte, sich mit dem Thema zu beschäftigen. Der Kunstfonds der DDR übernahm die Bezahlung in drei Raten von insgesamt 9.000 Mark der DDR und die Akademie der Wissenschaften der DDR (AdW), die Vorläuferin der BBAW, wurde als Abnehmerin bestimmt. Dieses Vorgehen war eine übliche Form der Kunstförderung in der DDR, die vermittels unterschiedlicher öffentlicher Institutionen geschah und die dazu führte, dass die AdW einen umfangreichen Kunstbestand aufbaute.
Hegewalds Bild wurde während des Entstehungsprozesses durch Personal der AdW inspiziert und war im Herbst 1989 fertiggestellt. Dass das gewählte Motiv schon damals eine Herausforderung darstellte, spiegelt sich in dem Detail, dass Entropie in den Akten mehrfach mit d statt mit t geschrieben wird. Dies ist wohl weniger mit dem Zungenschlag der Beteiligten als mit schlichter Unkenntnis der komplexen Materie zu erklären.
Im Frühjahr 1990 erfolgte die endgültige Abnahme des Werks. Nur gelangte es dann nicht an die Akademie, wie ursprünglich vorgesehen. Warum dem so war, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Die Unwägbarkeiten, welche aus dem sich damals beschleunigenden Vereinigungsprozess resultierten, werden eine Rolle gespielt haben. So verblieb das Bild bei der Künstlerin, die es gelegentlich zu Ausstellungen schickte. Die AdW wurde aufgelöst und abgewickelt, ihre Räumlichkeiten am Gendarmenmarkt gingen, wie auch das Archiv und mit diesem die Kunstbestände, an die BBAW über. Diese übernahm damit ein Erbe aus DDR-Zeiten, ohne jedoch die Tradition der AdW fortzuführen, was in ihrem Namenszusatz „vormals Preußische Akademie der Wissenschaften“ zur Geltung kommt.
Diese bewusste Abgrenzung wie auch die Größe des Gemäldes führten wohl dazu, dass man sich dazu entschloss, einen Leihvertrag aufzusetzen, durch den das Bild auf unbestimmte Zeit bei der Künstlerin verbleiben konnte. Im Depot wollte sie ihr Werk möglichst nicht verschwinden sehen, an der BBAW konnte und wollte man es wegen der räumlichen Gegebenheiten lange nicht präsentieren. Der Leihvertrag wurde durch drei Jahrzehnte immer wieder verlängert. Aus den Akten wird ersichtlich, dass zeitweise sogar die Überlegung bestand, dass das Bild durch die Präsentation in Ausstellungen möglicherweise Kaufinteressenten anziehen könne; an anderer Stelle heißt es, eine Dauerleihgabe an ein Museum sei denkbar, „da kein Akademiebezug“ bestehe.
Letztlich ist das Bild nun doch an die BBAW zurückgelangt – durch einen Vertrauten trat die Künstlerin Anfang 2023 an die Akademieleitung heran, mit dem „dringenden Wunsch, noch zu ihren Lebzeiten das Bild in guten Händen und an einem würdigen Platz zu sehen“. Dieses Ansinnen fiel just in ein Jahr, in dem die BBAW auf 30 Jahre Neukonstitution blickte. Die Geschichte der BBAW, die historischen Verwicklungen, die ihre Spuren an ihr als Institution hinterlassen haben, spiegeln sich ein Stück weit im wechselhaften Umgang mit dem Kunstwerk, wie auch schon im Übergang seines Eigentums von einer untergegangenen (AdW) auf eine neue Institution (BBAW). Dass es keinen Akademiebezug habe, ist also gewissermaßen schon durch diese durch einen deutlichen Bruch gekennzeichnete Provenienz widerlegt. Überdies – und neben der Tatsache, dass es ein Hauptwerk einer namhaften Künstlerin darstellt – ist es ein bedeutendes Zeugnis seiner Epoche. Die in ihm thematisierten globalen ökologischen Krisen wurden durch Teile der Oppositionsbewegung der DDR skandalisiert, prominent etwa im Fall der Umwelt-Bibliothek der Zionsgemeinde in Berlin-Mitte. Es ist somit einerseits zwar das Ergebnis staatlicher Kunstförderung in einem diktatorischen Regime, verarbeitet andererseits aber Belange, deren gesellschaftlicher Widerhall mit zum Fall dieses Regimes führte. Mithin zeigt sich, dass sich in der Betrachtung von „Entropie, Sisyphos im Schoß“, wie bei den meisten gelungenen Kunstwerken, vielerlei Ambivalenzen eröffnen, die zum Weiterdenken nicht bloß ermuntern, sondern geradezu mahnen.
Das Gemälde an prominenter Stelle im Akademiegebäude am Gendarmenmarkt aufzuhängen, zeugt nicht zuletzt davon, dass durch den zeitlichen Abstand neue Formen der Auseinandersetzung mit der deutsch-deutschen Geschichte möglich werden. Zudem passt die Hängung zu dem Ansinnen, das der Akademiedirektor Jörg Brauns in dem BBAW-Bericht 2022 formuliert hat, nämlich mehr mit den Kunstbeständen der Akademie als einem Pfund zu wuchern und diese der Öffentlichkeit zu erschließen. Und so geschieht mit dem Gemälde nun das, was es selbst bildlich einfordert: ein neuerliches Ansetzen, ein sich den Herausforderungen Stellen. Hoffentlich findet es viele interessierte Augen.
Roland Römhildt ist Referent des Präsidenten und für Internationales an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Er hat eine Dissertation zur Wirkungsgeschichte von Nachhaltigkeitskonzepten in der globalen Politik verfasst.
Hier können Sie seinen Beitrag im Jahresmagazin 2024 (S. 54–57) nachlesen. (PDF, 8MB)