Heidrun Hegewald: "Entropie, Sisyphos im Schoß" (1988/89)

© Heidrun Hegewald, Foto: BBAW/Sandra Vogel

Impulsvortrag von Sigrid Hofer im Rahmen des Mittagssalons der BBAW am 1. November 2023

 

Sehr verehrte, liebe Frau Hegewald, meine sehr geehrten Damen und Herren,

wir sind heute zusammengekommen, um mit Heidrun Hegewald eine Künstlerin und ihr Werk zu ehren - eine außergewöhnliche Malerin, Grafikerin, Schriftstellerin, Publizistin. Einige der von ihr illustrierten Kinderbücher sind in der Rubrik der schönsten Bücher ausgezeichnet worden. So z. B. "Der Flohmarkt" (1965) oder "Der Schuhu und die fliegende Prinzessin" (1966). In ihrem literarischen Schaffen widmete sich Heidrun Hegewald u.a. der Lyrik, sie gab aber auch Einblicke in ihre Lebensphilosophie und in ihr künstlerisches OEuvre. Sie hat uns damit wichtige Dokumente geliefert, die ihre Bildproduktion auf einer hermeneutischen Ebene erschließen helfen.

Heidrun Hegewald erhielt für ihr bildkünstlerisches Werk zahlreiche Auszeichnungen, u. a. den "Kunstpreis der Stadt Berlin" (1979), den "Max-Lingner-Preis der Akademie der Künste der DDR" (1980), den Vaterländischen Verdienstorden der DDR in Silber" (1984) oder auch den "Nationalpreis der DDR" (1989). (Zu Heidrun Hegewald siehe insbesondere: Haas, Angelika u. Kuhnert, Bernd (Hgg.). Heidrun Hegewald. Zeichnungen, Malerei, Grafik, Texte. Berlin 2004.) Die Liste ließe sich noch um viele andere Preise erweitern. Erwähnt werden muss in diesem Zusammenhang auch, dass sie viele Jahre Mitglied im Präsidium des VBK der DDR war. (1978-88).

Im Mittelpunkt des heutigen Mittagssalons steht eine Arbeit, die Heidrun Hegewald 1988/89 geschaffen hat, und die den Zeitumständen geschuldet, erst jetzt nach jahrelanger Verspätung an ihren eigentlichen Bestimmungsort gelangt ist.

Eine der großen Fragen der Bildenden Kunst ist jene nach ihrer Bestimmung, Was kann, soll oder muss Kunst leisten? Steht sie im Dienste der Menschen oder darf sie für sich beanspruchen, die ganz subjektiv gedachten oder empfundenen Vorstellungen zu erfüllen? Darf sie allein auf das ästhetische Vergnügen und auf den Genuss fokussieren oder hat sie sich im gesellschaftlichen Diskurs zu engagieren? Muss sie intervenieren, die Augen öffnen, den Finger auf die Wunde legen? Wem ist sie verpflichtet und wovon bzw. von wem ist sie abhängig?

Wenn wir in die Geschichte der Kunst schauen, sehen wir all diese Funktionen in unterschiedlicher Weise realisiert; ausschlaggebend sind hierfür die historischen Zeitläufte und die politischen Gegebenheiten, aber auch die spezifischen Weltanschauungen und Intentionen der jeweiligen Künstler:innen. Heidrun Hegewald hat für sich eine klare Entscheidung getroffen. Ihre Arbeiten sind immer dezidierte Stellungnahmen zu aktuellen gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen und Zuständen. Das gilt auch für "Entropie - Sisyphos im Schoß" von 1989/89.

© BBAW/Sandra Vogel

Wir alle kennen den Mythos von Sisyphos. Sisyphos, einst König von Korinth, muss einen großen Gesteinsbrocken einen Berg hinauftragen, der, sobald die Bergspitze erreicht ist, wieder nach unten rollt, so dass die Aufgabe niemals gelöst werden kann und sich der Held vergebens bis zur völligen, doch nie endenden körperlichen Erschöpfung quälen muss. Diese Qual hatte der Göttervater Zeus erdacht, denn Sisyphos hatte Hades, den Gott des Totenreiches, überredet, ihn noch einmal für kurze Zeit zu seiner Gattin zurückkehren zu lassen. Sisyphos hielt sich – nur zu verständlich – nicht an die Vereinbarung. Doch die Unsterblichkeit war den Göttern vorbehalten und so strafte Zeus die Hybris eines Menschen, der auf ewig die Erfahrung machen musste, dass er den Gipfel und damit die Überwindung des Todes niemals erreichen würde.
Diese Maßlosigkeit des Sisyphos, der sich nicht um seinen Platz in der Welt scherte, ist es, die Heidrun Hegewald zum Thema machte.

Wie immer in ihren Kompositionen modifiziert und aktualisiert Heidrun Hegewald das mythologische Thema. Wir sehen daher nicht das konventionelle Sujet, das Sisyphos mit dem Felsbrocken auf den Schultern zeigt, vielmehr eine Figurengruppe aus drei Personen. Zuvorderst zu erkennen ist Sisyphos, der sich auf die Schenkel einer Frauenfigur hat fallen lassen. Dass er am Ende seiner Kräfte ist, ist seiner Haltung deutlich anzumerken. Den Stein aber sehen wir im Hintergrund, ganz oben auf einer Bergspitze liegen, und es fragt sich sofort, ob dieser dort stabil im Gleichgewicht ist, oder ob er im nächsten Moment herabstürzen wird. Sisyphos hat sich seiner Aufgabe entledigt, vielleicht ist er sich der Sinn- und Ziellosigkeit seines Tuns bewusst geworden, er gibt sich geschlagen, egal was passieren wird, er hat resigniert.

Das Gleichgewichtsthema, das mit dem Stein auf der Bergspitze angeschlagen wird, verkörpert auch die Frauengestalt, die als die Personifikation der Entropie zu lesen ist. An ihrem nackten Oberkörper kleben mehrere Elektroden, die die Daten ihres körperlichen Zustands messen. Verkabelt sind auch ihre Handgelenke, und ein operativer Eingriff am rechten Unterarm erlaubt es offensichtlich, die Blutzusammensetzung zu analysieren. Entropie ist eine Maßeinheit aus der Thermodynamik und zeigt an, wie hoch der Grad der Unordnung in einem System ist. Damit ist auch der Kipppunkt angesprochen, also das Maß der Unordnung, das ein in sich stabiles System zusammenbrechen lässt. Der sorgenvolle Blick der Frauenfigur geht daher zu dem Gesteinsbrocken, um den sich Sisyphos nicht mehr kümmert und der so zu einer ernsthaften Gefahr werden kann.
Um welche konkrete Gefahr es sich handelt, wird an dem links oben ins Bild gesetzten Zeichen erkennbar, das mit einem Fadenkreuz markiert wird. Es handelt sich um unseren Globus, der den Sonneneruptionen schutzlos ausgeliefert ist. Wir blicken auf die Polkappe, die das große Ozonloch zeigt, und werden unmittelbar mit den Problemen des Klimawandels konfrontiert. Wie sehr diese den Fortbestand der Menschheit beeinflussen – heute muss man besser sagen bedrohen – verdeutlicht die dritte Figur im Bild. Mit ihrer schon in der Antike geläufigen Geste des nach oben bzw. unten zeigenden Daumens wurde in den Amphitheatern über Leben und Tod entschieden. Und um genau diese existentielle Frage geht es auch heute.

© Heidrun Hegewald, Foto: BBAW/Sandra Vogel

Mit ihrem Gemälde hat Heidrun Hegewald bereits vor 34 Jahren ein ungemein aktuelles Thema aufgegriffen. Wir alle wussten um die problematischen technologischen Entwicklungen auf unserer Erde, um die ungebremste Fortschrittsgläubigkeit, die Massenkonsum, Ausbeutung der begrenzten Rohstoffe und sorglose Verpestung unserer natürlichen Umwelt für uns bringen würden. Schon 1972 hatte der Club of Rome seine eindringliche Studie mit dem Titel "Die Grenzen des Wachstums" vorgelegt. Doch die Verführungen des kapitalistischen Marktes waren und sind stärker und besiegen stets aufs Neue die Vernunft. Heidrun Hegewald hat dieser dystopischen Entwicklung schon früh ein mahnendes Denkmal gesetzt. Gerade in der Akademie der Wissenschaften (wofür es seinerzeit beauftragt worden ist) hätte dieses Bild einen hervorragenden und wirkungsvollen Platz gefunden. Es ist daher sehr zu begrüßen, dass sich die Bestimmung des Bildes heute realisiert, denn die Aufforderung, die von dem Bild an die Wissenschaftler:innen ausgeht, ist unmissverständlich: Der eigene kritische Verstand muss zum Wohle der Menschen eingesetzt und das eigene Forschen und Handeln immer wieder an ethischen Maximen gemessen werden.

Die Bilder von Heidrun Hegewald sind keine leichte Kost. Und das sollen sie auch nicht sein.

Helga Möbius hat 1982/83 anlässlich der IX. Deutschen Kunstausstellung davon gesprochen, dass die Künstlerin "den direkten Appell ohne Umschweife" suche und dabei "mit einer Kompromisslosigkeit zu Werke" gehe, die "ohne Vergleich" sei. "Die Analyse menschlicher Deformation durch moralisches Versagen ist für manche Betrachter bis an die Grenze des Erträglichen getrieben. Das aber soll so sein, denn was bezeichnet wird in den Bildern, ist in Wahrheit unerträglich." (Möbius, Helga. Zur Malerei und Grafik zwischen den beiden Ausstellungen. In: IX. Kunstausstellung der DDR. Dresden 1982/83, S.18-25, hier S. 22.)

© BBAW/Sandra Vogel

Die Konfrontation mit Missständen ist letztlich allen Bildern Heidrun Hegewalds inhärent. Das gilt u. a. für den familiären Umgang untereinander. Die Arbeit "Kind und Eltern" (1976) zielt auf die emotionale Leere und Sprachlosigkeit, die sich vielerorts breit gemacht hat, und rückt die seelische Vernachlässigung der Kinder ins Zentrum. In "Kassandra sieht ein Schlangenei" (1981-82) zeigt sie uns die Mahnerin, die das Unheil deutlich vor Augen hat, doch niemand will ihr Glauben schenken. Ein Bild, das eine universellere Bedeutung reklamieren kann, denn nur zu häufig entscheiden sich die Menschen dafür, die Augen zu verschließen, um in ihrer Ruhe nicht gestört zu werden und nicht handeln zu müssen. Mit "Prometheus bemerkt das Spiel mit dem Feuer" (1986) wird der Mythos ebenfalls aktualisiert. Prometheus' Strafe – an den Felsen gefesselt zu sein und jeden Tag von einem mächtigen Adler heimgesucht zu werden, der ihm die nachwachsende Leber aus dem Leibe pickt – beruht auf seinem Vergehen, den Menschen das Feuer gebracht zu haben. In der antiken Tragödie verwandte Aischylos (5. Jh. vor Christus) nicht den Begriff des Feuers, sondern jenen der Techné. Unter Techné waren viele Bedeutungen zusammengefasst, die sowohl die Wissenschaft wie die Technik, die Kunst, aber auch das Handwerk, also vielfältige Fertigkeiten meinten, mit denen der Mensch die Welt erobern kann. Damit steht Prometheus für den Fortschritt schlechthin, aber auch für all die Katastrophen, die durch jenen ausgelöst werden können. Heidrun Hegewald zeigt uns einen Moment, in dem Prometheus voller Trauer auf einen toten Menschen blickt und erkennt, dass er der Menschheit mit seiner Gabe einen schlechten Dienst erwiesen hat: Der aufsteigende Rauch im Hintergrund zeugt bereits von Unheil, von Zerstörung und von Tod.

Prometheus, Kassandra, Sisyphos sind allesamt mythologische Figuren. Ab den späten 1960er Jahren ist der Rückgriff auf diese Vorbilder nicht nur in der bildenden Kunst, sondern auch in der Literatur häufig zu finden. Heiner Müller gebraucht ihn, ebenso Anna Seghers, Stephan Hermlin, Günter Kunert, Christa Wolff und viele andere. Prometheus und Ikarus sind vielfach von Wolfgang Mattheuer eingesetzt worden, Angela Hampel hat sich in "Salomé" oder "Penthesilea" dieser Sujets bedient.

In der Mythologie ließen sich, so formulierte es Kai-Uwe Schierz 2012, "allgemeinmenschliche Beziehungsmuster und universelle Konstellationen vorgeformt finden, aus deren Blickwinkel die Gegenwart häufig wie durch ein ästhetisches Brennglas überdeutlich ins Bewusstsein (trete)." (Schierz, Kai-Uwe u. Kaiser, Paul. Tischgespräch mit Luther. Kat. der Ausst. Erfurt 2012, S.12.)

Um ihre Botschaft unmissverständlich zum Sprechen bringen zu können, hat sich Heidrun Hegewald dazu entschieden, im Modus des Realismus zu malen, denn dieser sei, so schrieb sie 1993, "die demokratischste Kunstform". (Hegewald, Heidrun. Frau K. Die zwei Arten zu erbleichen. Berlin 1993, S. 10.) Hegewalds Figuren sind in der Regel nahe an den Bildrand herangerückt, der Betrachter kann sich ihnen daher nicht entziehen. Schönlinigkeit ist der Künstlerin fremd, ebenso die farbige Palette. Stattdessen konzentriert sie sich auf den Ausdrucksgehalt, auf Mimik und Gestik, die gelesen werden können, und auf die Körper, die oft expressiv deformiert sind, um die ganze Tragik der Thematik zu transportieren (vgl. etwa "Mutterverdienstkreuz in Holz", 1979), und um die Betrachter:innen zu schockieren und aufzurütteln, denn, so die Künstlerin weiter: "Die gefährlichste Geisteskrankheit der Gegenwart ist, dass der Einzelne glaubt, nichts tun zu können." (Ebd., S.11.) Dieses Statement von Heidrun Hegewald soll hier am Schluss stehen, denn es charakterisiert ihr künstlerisches Anliegen in prägnanter Weise und hat angesichts der gegenwärtigen weltpolitischen Lage nichts an Brisanz eingebüßt.


Prof. Dr. Sigrid Hofer lehrte Kunstgeschichte an der Philipps-Universität Marburg. Sie ist unter anderem Gründerin und Vorsitzende des Marburger Arbeitskreises "Kunst in der DDR".

 

Download des Vortrags von Prof. Dr. Sigrid Hofer (PDF, 65KB) 

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