Friedrich Schleiermacher war nicht nur ein einflussreicher Theologe, Philosoph und Übersetzer in der Zeit um 1800, sondern galt auch als „Ästhetiker der Romantik“ (Dilthey 1966: 443). Seine Vorlesungen über die Ästhetik hält er zu einer Zeit, als die Ästhetik sich erst sukzessive als wissenschaftliche und akademische Disziplin etabliert und eine Kanonisierung der schönen Künste einsetzt. Schleiermachers Ästhetikvorlesungen von 1819, 1825 und 1832/33 bilden damit eine wichtige Komponente der ästhetischen Lehre am philosophischen Institut der Berliner Universität in den ersten zwanzig Jahren ihres Bestehens. Sie stehen im Kontext seiner dort gehaltenen philosophischen Vorlesungen über Philosophische Ethik, Psychologie und Dialektik. An der Berliner Universität war es zunächst K.W.F. Solger, der von 1811 bis 1819 insgesamt sechs Vorlesungen über Ästhetik bzw. philosophische Kunstlehre hielt und darin klassizistische, frühromantische und spekulative Motive in Beziehung setzte (Pinna 2017). Schleiermacher las seine Vorlesungen dann nach dem unerwarteten Tod Solgers 1819 nahezu abwechselnd zu Hegel, der 1818 an die Berliner Universität berufen wurde und zwischen 1820 und 1829 vier Vorlesungen über die Philosophie der Kunst hielt (Jaeschke 2016; Sandkaulen 2018).
In seinen Berliner Vorlesungen über Ästhetik entwirft Schleiermacher ausgehend von seiner philosophischen Ethik eine Kunsttheorie, in der die Untersuchung der künstlerischen Praxis eine zentrale Rolle spielt. Als deren Ausgangspunkt bestimmt Schleiermacher die menschliche Stimmung, die als Einteilungsgrund der schönen Künste fungiert und als begeisterte Stimmung das Initiationsmoment dieser Praxis ausmacht. Künstlerische Produktivität wird von Schleiermacher damit in anthropologischer Perspektive als ein „organisch werden der Stimmung“ (Schleiermacher 1819) entwickelt und als Grundlage formalästhetischer Konzeptionen behauptet, wobei er sich kritisch auf Baumgarten und auf Kants Kritik der Urteilskraft bezieht. Die Kunst wird dabei in epistemologischer Hinsicht als eine Erkenntnisform des Individuums betrachtet, die darauf ausgeht, das Gefühl bzw. die Stimmung symbolisch darzustellen, womit das Kunstwerk als eine „Selbstmanifestation des Künstlers“ (Schleiermacher 1833) erscheint. Ethisch relevant ist die Kunst schließlich, weil künstlerische Ausdrucksweisen nach Schleiermacher als Formen der sozialen Interaktion gedeutet werden können und als non-verbale (mimische und gestische) Kommunikation eine wichtige Funktion bei der Herausbildung sozialer Beziehungen und der Entwicklung kultureller Traditionen übernehmen.
Die in diesem Projekt zu beantwortende Frage nach dem Verlauf der hier skizzierten Ästhetikkonzeption Schleiermachers in den drei Kollegien von 1819, 1825 und 1832/33 untersucht aufgrund der sie dokumentierenden Textzeugnisse die Annahme einer sukzessiven Ausdifferenzierung der Erstkonzeption von 1819 und ist auf die allgemeine Frage nach der Weiterentwicklung von Schleiermachers philosophischer Systematik in seiner Berliner Zeit bezogen.
Dass die philosophischen Entwürfe der klassischen deutschen Philosophie bzw. des deutschen Idealismus nur als eine Konstellation sich wechselseitig bedingender und korrespondierender Positionierungen verstanden werden können, ist in Bezug auf systematische, epistemologische und ethische Problemlagen bereits ausgeleuchtet worden (Jaeschke/Arndt 2012; Stolzenberg/Waibel 2018), jedoch nur unzureichend in Bezug auf die Ästhetik. In diesem Projekt soll diese Forschungslücke aufgrund der Annahme bearbeitet werden, dass Schleiermachers Ästhetik durch die Diskussion von Themen und die Verwendung von Begriffen bedingt ist, die auch für andere Ästhetiken der klassischen deutschen Philosophie relevant sind. Schleiermacher nähert sich Hegels kulturhistorisch-systematischer Begründung der Kunst an, bringt dabei aber ein Konzept der Individualität zur Geltung, das auf einer Identität von Natur und Geist gründet, das in einigen Hinsichten auf Schellings Jenaer Kunstphilosophie (1802/03) rekurriert. Schleiermachers Einbeziehung frühromantischer Motive zeugt dabei von einer gewissen Nähe zur Ästhetik Solgers, wobei die anthropologische Begründung der künstlerischen Praxis durch die begeisterte Stimmung und ihre ethische Fundierung die Eigenbedeutung der Ästhetik Schleiermachers in diesem Kontext ausmacht. Dabei stand die Rezeption der Ästhetik Schleiermachers bislang im Schatten derjenigen Hegels und Schellings, deren Ästhetikvorlesungen inzwischen in historisch-kritischer Edition vorliegen, wodurch auch in textmaterialer Hinsicht neue Kontextfragen möglich sind (Schelling 2018; Hegel 2015–20).
Die sich als ein Beitrag zur Konstellationsforschung verstehende Untersuchung hat somit zum Ziel, Schleiermachers Ästhetikvorlesungen erstmals ausführlich in ihrem Verlauf und in ihrem Kontext zu untersuchen und kritisch darzustellen. Ergänzend zu hermeneutischen und diskursanalytischen Verfahren wird dabei auf Methoden der digitalen Text- und Korpusanalyse zurückgegriffen. Diesbezüglich wird die Bedeutung digitaler Methoden für die philosophische Forschung erprobt und aufgrund der Ausgangsannahme kritisch reflektiert, dass diese Methoden sich insbesondere für die Textgattung Vorlesung eignen, insofern Vorlesungsnachlässe oftmals umfangreiche Textmengen aufweisen, die sich über mehrere Jahrgänge erstrecken und dabei einen dynamischen und variantenreichen Charakter tragen (vgl. Bohr 2018). Damit soll methodologisch ein Beitrag zu der allgemeinen Frage geleistet werden, welche Potenziale digitale Methoden für die Erforschung philosophie- und begriffsgeschichtlicher Konstellationen bieten und dabei eine Erweiterung der Hermeneutik nötig werden lassen (Rockwell/Sinclair 2016). Die Forschungsergebnisse sollen abschließend in eine Publikation einfließen.
Das Projekt ist mit dem Akademienvorhaben „Schleiermacher in Berlin 1808–1834. Briefwechsel, Tageskalender, Vorlesungen“ der BBAW assoziiert, mit dem insbesondere in Hinblick auf die digitale Publikationsplattform schleiermacher digital kooperiert wird. Aufgrund der vom Projektleiter in einem vorherigen DFG-Projekt bearbeiteten und herausgegebenen historisch-kritischen Edition von Schleiermachers Ästhetikvorlesungen (als Druck: KGA II/14), die ebenfalls in Assoziation mit dem Akademienvorhaben entstanden ist, können sämtliche überlieferten, transkribierten und kommentierten Dokumente zu Schleiermachers Ästhetikvorlesungen für dieses Projekt verwendet und nachgenutzt werden.
Der im ersten Projektteil geplante digitale Thesaurus der Themen und Begriffe wird in Kooperation mit TELOTA entwickelt, dessen Veröffentlichung auf schleiermacher digital mit der Publikation einiger nicht in der Druckausgabe (KGA II/14) enthaltenen Vorlesungsnachschriften einhergeht. Damit wird die Veröffentlichung der digitalen Edition der Ästhetikvorlesungen nicht nur die Dokumente der Druckausgabe enthalten, sondern zugleich auch weitere Dokumente zu Schleiermachers Ästhetikvorlesungen, die sämtlich mit dem Thesaurus verknüpft und erschlossen werden können.
Darüber hinaus sind Kooperationen mit Expertinnen der Philosophiegeschichte, der Ästhetik, der Editionswissenschaft und der klassischen deutschen Philosophie geplant: Prof. Dr. Anne Eusterschulte (Freie Universität Berlin) und Prof. Dr. Violetta Waibel (Universität Wien).
Literatur: