Gemeinwohl als Leitbegriff
Seit Ende des Kalten Krieges ist in allen Ländern Europas ein bemerkenswerter Wandel der politischen Leitbegriffe festzustellen: Politiker, Interessenverbände und Intellektuelle berufen sich auf das Gemeinwohl als legitimer Orientierung politischen Handelns. Das kann irritieren, denn Gemeinwohl gehört zum politischen Begriffsarsenal Alteuropas, und seine einstige Erfolgsgeschichte galt spätestens mit dem Anbruch von Demokratie und Industriekapitalismus als beendet. Dennoch hat der Begriff nach dem Ende der Blockkonfrontation wie selbstverständlich wieder einen Platz in der öffentlichen Diskussion eingenommen. So wird insbesondere die Forderung nach einer Reform des Wohlfahrtsstaates mit den Erfordernissen des Gemeinwohls begründet. Gemeinwohl wird zur Referenzgröße von Innovation: Politische und gesellschaftliche Akteure signalisieren damit, daß bessere, allgemein verträglichere und nachhaltigere Lösungen gesellschaftlicher Probleme nicht nur notwendig, sondern auch möglich sind, wenn sich nur der Blick gesellschaftlicher Gruppen von ihrer Fixierung auf die nächstliegenden Interessen und allzu kurzfristigen Lösungsstrategien lösen würde. Das in der politisch-sozialen Sprache der Gegenwart verstärkt zu Wort kommende Begriffspaar Gemeinwohl und Gemeinsinn thematisiert so in Zeiten knapp gewordener finanzieller Ressourcen die soziomoralischen Ressourcen der Gesellschaft; es wirft damit die Frage auf, wieviel Orientierung am allgemeinen Wohl Bürgern und Interessensvertretern abzuverlangen und zuzumuten ist.
Diskurs
Es wird dabei oft übersehen, daß Gemeinwohl und Gemeinsinn keineswegs miteinander harmonieren müssen, sondern die Beziehung zwischen dem normativen Ideal und seiner motivationalen Voraussetzung Paradoxien und Aporien entfalten kann: Wird Gemeinwohl als ideales Ziel ins Spiel gebracht, an der sich der Gemeinsinn zu orientieren habe, dann unterschlägt ein solches Begründungsverhältnis die Abhängigkeit des Gemeinwohls vom Gemeinsinn der Bürger und läuft sogar Gefahr, einen vorhandenen Gemeinsinn zu überstrapazieren.
Umgekehrt kann der voreilige Verzicht auf normative Orientierung am Gemeinwohl auch den Bürger sozial-moralisch unterfordern. Man wird die Gemeinwohlrhetorik daher sowohl einem Überforderungs- als auch einem Unterforderungs-Check unterziehen müssen. So ist beispielsweise zu vermuten, daß sich mit der Ausweitung des Adressatenkreises von Gemeinwohlvorstellungen die verfügbaren Ressourcen von Gemeinsinn verringern und vice versa. Die Arbeitsgruppe wird auch die soziomoralischen Voraussetzungen supranationaler Integrationsprozesse prüfen müssen.
Umgekehrt reflektiert die Gemeinwohlsemantik auch Problemlagen und Defizite differenzierter Gesellschaften. Weder gibt es hier einen Monopolisten des Gemeinwohls – wie etwa den Staat der frühen Neuzeit –, noch kann davon ausgegangen werden, wie es der verführerische Singular von Gemeinwohl suggeriert, daß es objektiv richtige und allgemein verträgliche Problemlösungen gibt, die von den Akteuren nur erkannt werden müssen. In einer pluralistischen und differenzierten Gesellschaft hat man es in ökonomischer, juristischer, medizinischer oder ökologischer Hinsicht mit konfligierenden Gemeinwohlhorizonten der einzelnen Akteure zu tun und mit entsprechend widersprüchlichen Definitionen.
Ziel
Ziel der Arbeitsgruppe war es also, im Ringen der Akteure um Deutungskompetenz, die Funktionen des Gemeinwohlbegriffs in den unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen und Kontexten von Öffentlichkeit zu sondieren und zu überprüfen, unter welchen Bedingungen sich der Begriff erfolgreich instrumentalisieren läßt. Denn die Berufung auf das Gemeinwohl dient nicht nur der Begründungserleichterung und Akzeptanzsicherung für komplexe Entscheidungen, sondern fungiert auch als Aufmerksamkeitsgenerator für Entscheidungsbedarf.
Die irreduzible Pluralität von Gemeinwohlvorstellungen verlangt eine transdisziplinäre Forschungsperspektive: Auf Tagungen und in Form von Einzelvorträgen wurde die Thematik nicht nur aus sozial-, rechts-, wirtschafts-, naturwissenschaftlicher (biologischer und ökologischer) und theologischer Perspektive erörtert, sondern es kamen insbesondere auch Vertreter gemeinwohlorientierter Praxis in Politik, Wirtschaft und Kultur zu Wort. Der Dialog zwischen Wissenschaft und ‹Praxis› war vornehmliches Ziel der Arbeitsgruppe.