Zur Situation naturwissenschaftlich-technischer Bildung in Europa

Der Arbeitsmarkt für Ingenieure und eingeschränkt für akademische naturwissenschaftliche Berufe ist derzeit von einem ausgeprägten Fachkräftemangel charakterisiert. Diese Mangelsituation war durch verlässliche, statistische Trendfortschreibungen zur Entwicklung von Absolventenzahlen und den wenigen existierenden Bedarfsprognosen auf der Basis belastbarer statistischer Auswertungen bereits seit einigen Jahren abzusehen. Aber erst jetzt wird mit aller Deutlichkeit klar, dass der Mangel keine konjunkturelle Eintagsfliege ist, sondern die weitere wirtschaftliche Entwicklung unabhängig von konjunkturellen Schwankungen negativ beeinflussen wird, wenn nicht kräftig gegengesteuert wird.

Die interdisziplinäre Arbeitsgruppe befasst sich mit dem Grundthema „Attraktivität von Technik und Naturwissenschaften“ und analysiert den Fachkräftemangel aus wisssenschaftlicher, sozialer, historischer und psychologischer Sicht. Dabei geht es nicht nur um die Situation in Deutschland, sondern vergleichend für Europa, USA und Südostasien.

 

Themenfelder

Zentrale Zielsetzung ist die Bestandsaufnahme und Analyse der Lage technisch-naturwissenschaftlicher Berufe vor dem Hintergrund der neueren sozio-kulturellen und sozio-ökonomischen Entwicklungen. Zu den sozio-kulturellen Trends zählen Technikkultur, technologische Leitbilder, Bildungsstandards, Prozesse der Techniksozialisation und die individuellen Wahrnehmungen von Technik und Naturwissenschaften. Zum sozio-ökonomischen Hintergrund zählen Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt und im Hochschulbereich.

 

Technikkultur und technologische Leitbilder

Wenige Studien widmen sich bislang dem internationalen Vergleich von Technikkulturen. Der Trend erscheint zunächst eindeutig: In so genannten Schwellenländern hat Technik wegen ihres Beitrages zum Wirtschaftswachstums ein gutes Image und erhält hohe positive Wertungen. In Hochtechnologieländern hingegen wird Technik zunehmend nach Risiken und Gefahren sowie nach unintendierten negativen Folgen für Kultur und Umwelt hinterfragt. Dieses einfache schwarz-weiß Bild trifft jedoch nur teilweise zu. Tatsächlich ist das Technikbild in Hochtechnologiegesellschaften weiter ausdifferenziert als in Nachholländern. Die Menschen dort schätzen die Alltagstechnik und in der Regel auch die Technik am Arbeitsplatz. Individuelle Produkttechniken wie das Internet, das Handy, die Unterhaltungselektronik und der PC haben keinerlei Akzeptanzprobleme. Im Gegenteil, diese Geräte sind oft unmittelbar mit dem sozialen Status einer Person verbunden. Umstrittener sind dagegen die so genannten externen Techniken wie große Kraftwerke oder Chemieanlagen. An diesen externen Techniken entzünden sich häufig Debatten über die Zumutbarkeit der damit verbundenen Risiken. Viele Teile der Bevölkerung verlangen, an Entscheidungen über solche Techniken mit beteiligt zu werden.  

 

Zur individuellen Verantwortung für die persönliche Techniknutzung tritt als neuer Wert die individuelle Verantwortung zur Beteiligung an der Legitimation externer Techniken. Werden zukünftige, gesellschaftlich erwünschte bzw. legitimierte  Technologien ein positives Image (er)schaffen, wie am Beispiel der Nutzung erneuerbarer Energien jetzt schon erkennbar wird? Entsteht dadurch ein neues Technikverständnis? Hier finden sich Anschlussmöglichkeiten zu anderen Forschungsprojekten der BBAW.

 

Bildungsstandards

Es erscheint uns unerlässlich, dass Technik in den Bildungskanon aufgenommen wird. Zielsetzung dabei ist die Vermittlung einer individuellen Technikmündigkeit als integraler Teil einer primären und sekundären Techniksozialisation. In vielen europäischen Ländern ist Technik bereits seit langem Unterrichtsfach oder -thema an allgemeinbildenden Schulen. Zeigen sich hierdurch verschiedene interkulturelle gesellschaftliche Trends im Umgang mit Technik und der Akzeptanz bzw. Akzeptabilität? Dieser Frage geht die IAG durch den Vergleich mit anderen Ländern nach.

 

Die Bildungsdebatte ist begleitet von einem neuen Verständnis des  Verhältnisses von Naturwissenschaften und Technik. Die wechselseitige Abhängigkeit in der Forschung (wie z.B. die Einblicke in die Welt der Atome durch Rastermikroskope, die Ausblicke von Hubble in den Kosmos und die naturwissenschaftliche Theoriediskussion über das Entstehen und „Verhalten“ des Universiums u.v.a.) sowie die parallele Verwertung von natur- und technikwissenschaftlichem Wissen in Produktion und Dienstleistung führen beide Disziplinen zunehmend zusammen. Hat dies Konsequenzen für die Bildungssysteme in Europa?

 

Wie sind Technik und Naturwissenschaft in modernen, aufstrebenden Bildungsstaaten mit Hochtechnologieniveau (bspw. Finnland, Norwegen und Schweden) im Vergleich zu den klassischen europäischen Hochtechnologiestandorten (Großbritannien, Norditalien, Frankreich, Deutschland) aufgestellt? Gibt es einem „Bildungs-Lag“ zwischen neuen modernen und alten Hochtechnologiestandorten in Europa?

 

Techniksozialisation

Die hier kurz skizzierten gesellschaftlichen Trends führen zu individuellen Veränderungen im Alltag und in der Nutzung von Technik. Die grundsätzliche Frage ist hierbei, ob sich die Einstellung gegenüber Technik bzw. Technologien als kohortenspezifischer Effekt manifestiert oder als lebenszyklischer Effekt. Kohortenspezifische Effekte würden sehr von den nationalen Technologieleitbildern und generativen Erfahrungen mit Technik und Naturwissenschaften geprägt sein, lebenszyklische Effekte eher von Milieus und sozialen Umwelten, die wiederum stark kulturell divergieren.  Für die Techniksozialisation ist die Analyse bedeutsam, welche Instanzen einen positiven Umgang mit Technik verstärken und ob gesellschaftliche Strukturen des Bildungssystems einen Effekt auf die individuelle Technikperzeption haben.

 

So werden Defizite in der Techniksozialisation in einigen Stellungnahmen und Expertisen als Begründung für die sehr unterschiedlichen Frauenanteile in ingenieurwissenschaftlichen Disziplinen angeführt. Der geringe Anteil von Studierenden mit Migrationshintergrund könnte hingegen auf kulturelle, lebenszyklische Defizite in der Techniksozialisation hinweisen. In Europa hat Deutschland für beide soziale Gruppen (Frauen und Migranten) in den klassischen Ingenieurwissenschaften Elektrotechnik und Maschinenbau die mit Abstand geringsten Anteile. Aber auch in anderen Ländern Europas gibt es hier deutliche Unterschiede.

 

Arbeitsmärkte zwischen  Binnenwanderung und Braindrain

Die nationalen Arbeitsmärkte sind überall in der Europa regional sehr unterschiedlich ausgeprägt. Es gibt jeweils industrielle Zentren mit einem hohen Bedarf gerade an hochqualifizierten Fachkräften und ökonomisch unterentwickelte, randständige Regionen. Zur regionalen Binnenwanderung kam mit der Liberalisierung des Arbeitsmarktes in der Europäischen Union auch eine verstärkte Arbeitsmigration zwischen den Staaten, sowohl für einfache wie für hochwertige Tätigkeiten.

 

Diese europäische Arbeitsmigration ist noch wenig analysiert. Gerade Berufe, die schon zuvor mit hoher Mobilität und Auslandstätigkeiten verbunden oder in einer internationalen Forschungslandschaft eingebettet waren, sind besonders stark von der Globalisierung der Arbeitsmärkte betroffen. Dies gilt insbesondere für Ingenieure, Naturwissenschaftler und Forscher. Zur regionalen Binnenwanderung und zur neuen europäischen beruflichen „Völkerwanderung“ gesellt sich noch ein internationaler Braindrain. Die Wanderungsbilanz von qualifizierten Fachkräften bedarf deshalb einer genaueren Analyse. Von besonderer Bedeutung sind hier Grenzregionen.

 

Demographischer Wandel

Verstärkt wird diese Arbeitsmigration durch die Auswirkungen des demographischen Wandels. Hiernach sinkt die Bevölkerung in vielen europäischen Staaten; schwache Geburtenjahrgänge führen zu Rückgängen beim wissenschaftlichen Nachwuchs. Dies ist jedoch nicht die Ursache für die mangelnde Attraktivität technischer und naturwissenschaftlicher Berufe und Studiengänge. Erhöhte Anstrengungen für erhöhte Abiturientenquoten und eine erhöhte Studierendenquote können dem demographischen Effekt sozialstrukturell entgegenwirken, ihn vermindern oder hinauszögern, nicht aber verhindern.

 

Gemeinhin wird zwischen Zusatz- und Ersatzbedarf unterschieden. Die aktuelle OECD Studie (2007) zur demographischen und ökonomischen Analyse von Zusatz- und Ersatzbedarfen für T+N-Berufe leistet hier eine gute Vorarbeit, ebenso aktualisierte Daten von EUROTAT. Danach wird ab ca. 2015 der Ersatzbedarf in Deutschland bei technisch-naturwissenschaftlichen Berufen nicht mehr zu decken sein, der konjunkturabhängige Zusatzbedarf kann dann diesen Mangel noch verstärken.

 

Hochschule

Ein weiterer Punkt, der die Arbeitsmigration befördert, ist die Angleichung der Schul- und Studiumsabschlüsse gemäß dem Bologna-Protokoll der EU. Dies erleichtert die formalen und mitunter die bürokratischen Hürden für berufliche Tätigkeiten im jeweiligen „Ausland“. In diesem Umfeld sind auch didaktische Fragen zum Verhältnis von Theorie und Praxis, zu den dominanten Bildungsidealen und Vermittlungsmodellen des Lernens und Lehrens relevant.

 

Methoden und Analysen

Die Fragen zu den vorgenannten Themenfeldern sollen anhand von Sekundäranalysen von Datenquellen der amtlichen Statistik (EUROPSTAT, OECD), Bevölkerungsumfragen (Eurobarometer), Analysen von nationalen Curricula (Lehr- und Studienplänen) sowie narrativen Reviews über Publikationen und Berichte empirisch untersucht werden.

 

Öffentlichkeitsarbeit und Ausblick

Neben jeweiligen Publikationen der zuvor genannten Analysen sind zwei zentrale Workshops mit internationalen Vertretern vorgesehen, die sich jeweils mit Themen der technischen Bildung in Schulen und Hochschulen sowie Fragen der Techniksozialisation befassen. Am Ende der Projektlaufzeit von zwei Jahren soll ein umfassender Arbeitsbericht die zentralen Ergebnisse wie auch die die offenen Fragen zusammenfassen und der wissenschaftlichen Gemeinschaft zur Diskussion überlassen.

 

 

 

Kontakt
Dr. Ute Tintemann
Leiterin Referat IAG
Referat Interdisziplinäre Arbeitsgruppen
Tel.: +49 (0)30 20370 633
tintemann@bbaw.de 
Jägerstraße 22/23
10117 Berlin
© 2024 Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften