Perspektiven verschiedener Bildkulturen

Bilder verkörpern Kultur. „Bilder“ nennen wir – verkürzt gesprochen – nicht nur visuelle Darstellungen in analogen Medien, also etwa Tafelmalerei oder die druckgrafischen Techniken, Diagramme, Karten oder Modelle, sondern auch die Produkte der bilderzeugenden digitalen Verfahren in den Naturwissenschaften, aber auch figurative Konstellationen aus der mentalen Vorstellungswelt. Ob in Wissenschaft oder Kunst, in Politik oder Religion – die Vielfalt möglicher Bildwelten hat einen entscheidenden Anteil an der Modellierung unserer Wirklichkeit. Die sich in diesem Zusammenhang entfaltenden Formen von Produktion und Kommunikation, Kritik und Kontrolle sind ohne die Vielfalt visueller, grafischer, figurativer und ikonischer Repräsentationen oder – einfacher formuliert – sind ohne Bilder undenkbar. An das folgenreiche Programmwort des „iconic turn” anknüpfend, wird in einer Vielzahl wissenschaftlicher Disziplinen mit Nachdruck für die besondere Bedeutung der visuellen Kultur sowie die Rolle der Bilder als eigenständige Erkenntnisinstrumente plädiert.

Kein Zufall ist es daher, dass die systematisch wie historisch orientierte Analyse von Bildern ein Motor gegenwärtiger kultur- wie naturwissenschaftlicher Forschung ist. Doch sind Bilder entgegen einer lange Zeit tradierten Auffassung keinesfalls transparente Bedeutungseinheiten. Ihrer Anschaulichkeit zum Trotz bleibt das vielfach formulierte Plädoyer für die Ausbildung von Kompetenzen im kritischen Umgang mit der Vielfalt visueller Artefakte aktuell – gerade im Angesicht der neuen Vielfalt von Bildformen, neu entstehender und schier maßloser Bilderpools im Internet oder der neuen Möglichkeiten der Bilderzeugung, -bearbeitung und -manipulation in der medialen Moderne. Einzig Formen der Bildanalyse, die grundsätzlich auch für den kulturellen Kontext der Produktion, Speicherung und des Gebrauchs von Bildern sowie für die aktuelle Vielfältigkeit von Bildformen sensibel sind, werden Aussicht auf ein umfassendes und zuletzt angemessenes Verständnis einer durch Bilder geleisteten Prägung und Erweiterung unseres Wissens und unserer Orientierungsleistungen haben.

„Bildkulturen” sind solche Bereiche kultureller Sinnerzeugung, die über ein gemeinsames Repertoire, vor allem aber über gemeinsame Weisen der Produktion und Rezeption von Bildern verfügen.

Das Forschungsvorhaben der Interdisziplinären Arbeitsgruppe „Bildkulturen” unternimmt eine dichte Beschreibung und Explikation eben dieses Zusammenhanges von Bild und Kultur. Die Arbeitsgruppe „Bildkulturen” wendet die auf die Vielfalt von Bildern bezogenen Fragen der Bildwissenschaft auf die Vielfalt der Kulturen an. Sie reformuliert die grundsätzliche Frage der Bildwissenschaft „Was ist ein Bild?“ bzw. „Was sind Bilder?“ in Form der Frage: „Was sind Bildkulturen?”. Diese Leitfrage impliziert Teilfragen: Worin sind die Unterschiede zwischen verschiedenen Bildkulturen zu suchen? In welchem Wechselverhältnis stehen verschiedene Bildkulturen zu einander und wie beeinflussen sie sich gegenseitig? Welche Einsichten ergeben sich daraus für einen grundlegenden Begriff von „Bildkultur” im Singular? Erstmals werden Bildkulturen hinsichtlich ihres partikularen und universalen Anspruchs in systematischer wie in historischer vergleichender Perspektive untersucht. Sowohl das Besondere einer jeweiligen Bildkultur gegenüber anderen als auch ihr Allgemeinanspruch sollen – vor dem Hintergrund einer globalen und beschleunigten Bildzirkulation und mit Blick auf die Rolle neuer Bildmedientechnologien – thematisiert werden.

Durch die Fokussierung auf Bild-Kulturen sollen auch Formen von Produktion und Kommunikation, Kritik und Kontrolle sowie gemeinschaftlich geteilte Repertoires im Umgang mit Bildern in das Blickfeld gerückt werden. Um eine dichte Beschreibung des Zusammenhangs zwischen Bildern und Kulturen zu ermöglichen, die sowohl die transkulturelle als auch die regionalkulturelle bzw. lokale Dimension unter dem Leitwort Bildkulturen angemessen wahrnimmt, aber auch um die gründliche Analyse dieser beiden Dimensionen von Bildern in ihren kulturspezifischen Rahmen vornehmen zu können, wird die Fragestellung auf das zentrale Problem der Perspektive fokussiert, die sich in besonderer Weise als ein Erfolg versprechender, zugleich aber zeitlich begrenzbarer Focus eignet. Die Arbeitsgruppe untersucht die Frage nach der Perspektive an konkreten Beispielen und unter Beachtung der einschlägigen physiologischen Bedingungen, historischen Entwicklungen und kulturellen Ausdifferenzierungen. Die Interdisziplinäre Arbeitsgruppe setzt bei ihrer Beschreibung des Wechselverhältnisses von Bild und Kultur vor dem Hintergrund einer Skala von transkultureller Verständlichkeit des Bildes bis hin zu seiner rein segmentären Rezipierbarkeit in bestimmten Kulturen die gegenwärtige Diskussion über Kulturkonzepte voraus, insbesondere das Konzept der „Transkulturalität”. In Abgrenzung zu traditionellen Kulturkonzepten, die von der Vorstellung einheitlicher und geschlossener Nationalkulturen ausgehen, wurde zu Beginn der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts das Konzept der Transkulturalität formuliert, das den seit Johann Gottfried Herder verbindlichen klassischen Kulturbegriff grundlegend in Frage stellt.

Die Annahmen dieses traditionellen Kulturkonzepts legen die Unterscheidung einer „eigenen” Kultur sowie anderer, „fremder” Kulturen nahe. Außer Acht gelassen wird bei diesem Kulturbegriff jedoch, dass Kulturen immer wieder einem dynamischen Prozess von Überschneidungen, Vernetzungen und zuweilen auch Verschmelzungen unterliegen. Dabei ist die Bestimmung der Grenzen und Reichweite einer Bildkultur nicht einfach identisch mit entsprechenden regionalen und historischen Kulturen bzw. Kulturräumen. Vielmehr können Bildkulturen in diesem Zusammenhang aufgrund des sowohl partikularen wie auch transkulturellen Charakters ihrer dominierenden Weisen, Bilder zu erzeugen und zu verstehen, einen langzeitigen kulturübergreifenden Charakter annehmen oder eigene Sub-Kulturen bilden.

Ein wichtiges Beispiel dafür ist das Phänomen der Zentralperspektive, das zu einem prägenden Faktor von Bildlichkeit und bildlicher Perspektive in der abendländischen Kultur geworden ist. An konkreten Beispielen von den antiken Kulturen bis in die Gegenwart lässt sich die Frage nach transkulturellen Wertigkeiten und Semantiken bestimmter Bilder und Formprinzipien neben dem Wandel ihrer partikularen Bedeutungen nachzeichnen. So gehören möglicherweise Größenunterschiede handelnder Figuren in religiösen und profanen Bildkontexten ebenso zu weitgehend transkulturell verstehbaren Bildelementen wie bestimmte formale Kompositionsprinzipien wie Rahmen, Zentrierung oder Achsensymmetrie.

Die Interdisziplinäre Arbeitsgruppe „Bildkulturen” erarbeitet ein Kompendium, das auf der Basis interdisziplinärer Forschung zu ausgewählten Bildern Formen, Funktionen, Geltung und Grenzen der „Perspektive” in unterschiedlichen Kulturen zusammenstellt und analysiert. Mit einer solchen Publikation möchte die Arbeitsgruppe ein grundlegendes Werk vorlegen, das für die Perspektive erstmals die Frage nach den unterschiedlichen Bildkulturen ernst nimmt und zugleich das Verhältnis von Transkulturalität und Visualität an einem magistralen Beispiel klärt. Perspektive, perspektivisches Sehen und perspektivische Darstellung gehören – von der Kunstgeschichte bis zur Psychologie, von der Mathematik bis zur Philosophie – bereits seit Langem zu prominenten Gegenständen der Forschung. Die Zentralperspektive als ein transhistorisches, epochen- und kulturübergreifendes Prinzip zu begreifen, heißt, Perspektive als ein mathematisch eindeutig bestimmtes und erklärbares Regelsystem aufzufassen, welches nicht durch andere Perspektiv- und Abbildungstechniken ersetzt werden kann. Sie umgekehrt als konventionelles Abbildungssystem zu begreifen, heißt, dass demnach die Zentralperspektive nicht entdeckt, sondern erfunden worden ist; ihre Regeln sind nicht notwendig, sondern kulturell bedingt und kontingent.

Die Zentralperspektive ist dann einer austauschbaren Sprache vergleichbar, und ihr globaler Siegeszug erscheint wie die Vorherrschaft einer bestimmten Sprache, welche grundsätzlich auch eine andere hätte sein können. Die bisherige Forschung zur Perspektivik hat es versäumt, den Horizont dieser Frage nicht nur akzidentiell, sondern systematisch auf Fragen der Transkulturalität zu erweitern und hierbei das Interesse prinzipiell auch auf Bildkulturen außerhalb des „westlichen” Kulturkreises zu richten. Aber gerade jüngste bildtechnologische Entwicklungen legen eine solche dezidiert transkulturell ausgerichtete Diskussion der Perspektive und Raumdarstellung nahe: Denn zu den maßgeblichen jüngeren bildmedialen Entwicklungen gehört, dass sich mit dem zentralperspektivischen Verfahren, welches inzwischen als Grundlage zur Erzeugung von kulturunabhängig „realistischen” Bildern gilt, ein bestimmtes Abbildungsverfahren scheinbar kulturübergreifend und global durchsetzt.

Die gemeinsame Arbeit an diesem Kompendium zur Perspektive ist in drei Phasen unterteilt:

 

  • Erste Phase: Naturalität und Kulturalität des Sehens

In der ersten Arbeitsphase werden wesentliche Voraussetzungen für ein transkulturelles Verständnis der Perspektive gemeinsam erarbeitet. Die leitende Frage zielt hierbei auf das Problem der Naturalität und der Kulturalität des Sehens. Berührt werden hierbei sowohl Fragen der Wahrnehmungsphysiologie, der Mathematik, der philosophischen Bildtheorie als auch der Geschichte europäischer und außereuropäischer Kultur und Kunst.

  • Zweite Phase: Zentralperspektive und die Evolution globaler Bilder

In der zweiten Arbeitsphase wird die Vorstellung transkulturell wirksamer Bilder, so genannter „global images”, überprüft. Gefragt wird nach der Rolle neuer Bildmedientechnologien bei der Verbreitung und Durchsetzung eines spezifischen Konzepts von Zentralperspektivik. Nicht zuletzt im Zusammenhang mit der Präsentation und Kommunikation wissenschaftlicher Forschung werden die Möglichkeiten von global, das heißt kulturell unterschiedslos zum Einsatz gelangenden Bildmedien diskutiert.

  • Dritte Phase: Perspektive als Problem transkultureller Hermeneutik

In der abschließenden dritten Arbeitsphase wird anhand von Fallstudien Gewinn und Verlust transkultureller Prozesse des Bildgebrauchs am Beispiel des perspektivischen Sehens erarbeitet. Gefragt wird nach den Möglichkeiten einer universalen Perspektivästhetik oder aber, demgegenüber, nach Effekten eines produktiven Missverstehens alternativer, insbesondere außereuropäischer Perspektiv-Konstruktionen. Gestellt werden wird hierbei stets zugleich Fragen nach der universalen oder aber kulturspezifischen Geltung des Sehens und der dabei zum Einsatz gelangenden Bildmedien.

Die Interdisziplinäre Arbeitsgruppe „Bildkulturen” führt schließlich die Idee des „Jungen Forums für Bildwissenschaft" fort, das in den Jahren 2006 bis 2008 von der Interdisziplinären Arbeitsgruppe „Die Welt als Bild" entwickelt und veranstaltet worden ist. Der Akzent dieser Serie von Workshops liegt auf der Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses.

Kontakt
Dr. Ute Tintemann
Leiterin Referat IAG
Referat Interdisziplinäre Arbeitsgruppen
Tel.: +49 (0)30 20370 633
tintemann@bbaw.de 
Jägerstraße 22/23
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