In den vergangenen zwei Jahren wurde die Frage wieder aktuell, weil Regeln für die Zuteilung intensivmedizinischer Ressourcen während einer Pandemie gesetzlich definiert werden mussten. Für viele Menschen ist es selbstverständlich, dass staatliche Rettungs- und Notfalldienste und Ärzte alles unternehmen müssen, um möglichst viele Menschenleben zu retten.
Das deutsche Strafrecht geht jedoch teilweise von anderen Wertungen aus, wenn zu prüfen ist, ob der Rechtfertigungsgrund „Notstand“ eingreift. Manche Regeln sind dezidiert anti-konsequentialistisch. Retter müssen Handlungen unterlassen, die eine größere Zahl an Menschenleben retten, wenn ihr Tun den Tod einer kleineren Zahl beschleunigen würde. Verbreitet ist heute der Rekurs auf die Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz), etwa auch in einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Luftsicherheitsgesetz. Die historischen Wurzeln reichen weiter zurück: Dezidierte Kritik an einer Folgenabwägung findet sich bei Immanuel Kant.
Ziel des Vortrags von Tatjana Hörnle (Akademiemitglied, Max-Planck-Institut zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht) ist es, diese deutsche Haltung zu erklären und zu kritisieren.
Eine Veranstaltung des Jahresthemas „Projekt: Aufklärung! “
DIE VERANSTALTUNGSREIHE
Selbst denken, gemeinsam forschen, kritisch urteilen? – Aufklärung in den Wissenschaften
Die europäische Aufklärung strebte nach der Überwindung von Unterdrückung und Vorurteilen. Sie orientierte sich dabei an den empirischen Wissenschaften, die ihrerseits in den Dienst gesellschaftlichen Fortschritts gestellt wurden. Welche Rolle spielen die Ideen der Aufklärung heute noch in den Wissenschaften? Dienen sie weiterhin als Orientierungspunkte, oder haben sie sich mittlerweile als Hindernisse entpuppt? Halten sie noch ungenutzte Potentiale für die modernen Wissenschaften bereit?