Im siebten Jahr nach dem Ende der DDR sprach manches dafür, die Vereinigung der beiden deutschen Wissenschaftssysteme als einigermaßen abgeschlossen anzusehen.
Sie ist im wesentlichen, wie die Wiedervereinigung insgesamt, als Übertragung des westdeutschen Modells auf den Osten unter westdeutscher Regie vor sich gegangen. Die rechtlich-institutionelle Ordnung des bundesrepublikanischen Wissenschaftssystems wurde auf die beitretenden Länder ausgedehnt. Ein erheblicher west-östlicher Ressourcen-Transfer fand statt. Wissenschaftliches und administratives Personal strömte aus dem Westen in den Osten und rückte dort zum Teil an die Stelle von ostdeutschen Kräften, die in der Konkurrenz um die neudefinierten Stellen in den rasch umstrukturierten Hochschulen und anderen wissenschaftlichen Einrichtungen den kürzeren zogen, bisweilen auch als politisch belastet gingen oder zum Abtreten gezwungen wurden. Personell ergaben sich ostdeutsch-westdeutsche Mischungsverhältnisse, die allerdings nach Personalkategorien und Fächergruppen extrem variieren. Die verbindliche Staatsideologie der DDR, der auch die Wissenschaften tief beeinflussende Marxismus-Leninismus, brach zusammen.
Mit den Personen, Institutionen und Ressourcen haben die in sich vielfältigen Fragestellungen und Methoden, Inhalte und Paradigmen der westlichen Wissenschaft im Osten Einzug gehalten. Ein gesamtdeutsches Wissenschaftssystem ist, so scheint es, im Grundsatz entstanden. Die Arbeitsgruppe hat sich mit den Voraussetzungen und Folgen, Erfahrungen und Grenzen der Vereinigung in den Wissenschaften beschäftigt. Dabei orientierte sie sich an drei Bündeln von Fragen:
Die Vereinigung hat auch im Wissenschaftsbereich zu krisenhaften Störungen im Osten geführt. Vieles brach dort ab, der Veränderungsdruck war enorm, die von den Menschen geforderte Anpassung rapide. Großorganisationen wie die Akademie der Wissenschaften der DDR wurden "abgewickelt", das Personal entlassen und, insgesamt gesehen, nur zum kleineren Teil wieder eingestellt. Aber es gab auch ungewöhnliche Gestaltungschancen, denn Institutionen der Forschung und Lehre entstanden neu. Was an Inhalten, Methoden und Organisationsformen ist im östlichen Deutschland abgebrochen und warum, als notwendige Bereinigung oder als - unvermeidbarer oder vermeidbarer - Verlust? Was entstand wirklich im Osten aus der Übertragung des westlichen Modells? Welche Alternativvorstellungen traten in der Wende hervor, ohne realisiert zu werden, und warum wurden sie nicht realisiert? Änderte sich dieses im Prozeß seiner Ausdehnung nach Osten? Erfolgte die Übertragung selektiv, und wie unterschieden sich die Wirkungen von den Absichten? Ostdeutsche und westdeutsche Forscher seien weiterhin "als Typ unterscheidbar", meinte kürzlich Jens Reich. Was ist Neues entstanden, gewollt oder nicht, gut oder schlecht, aufgrund welcher Mechanismen und Traditionen, in welcher Mischung von alt und neu?
Solche Fragen sind nur zu verfolgen, wenn man den Entwicklungsstand der Wissenschaften in der DDR vor der "Wende" genau in den Blick nimmt. Dies ist interessant in sich selbst. Die Untersuchung der Disziplinen in der DDR verspricht neue Einsichten in das Verhältnis von endogenen und kontextuellen Entwicklungsfaktoren von Wissenschaft, in das Schicksal der Wissenschaften unter den Bedingungen einer Diktatur, in das Verhältnis von Wissenschaft und real existierendem Sozialismus. Aus dem Streit der Meinungen, der Konfrontation der Erfahrungen und dem Kampf der Interessen ein zutreffendes und gerechtes Bild von den Wissenschaften und den Wissenschaftlern der DDR allmählich herauszukristallisieren, ist eine große Aufgabe, die noch nicht ganz den Historikern überlassen werden kann, sondern zunächst noch - auf jeden Fall: auch - den miterlebenden und sich erinnernden Zeitgenossen obliegt. Denn die DDR ist noch nicht lange vorbei, ihre Geschichte ist noch ganz und gar Teil unserer Gegenwart, wenngleich oft schon verstellt, zunehmend fremd und vermutlich bald auch verblassend. Um das Verhältnis von Wissenschaften und Wiedervereinigung durchleuchten zu können, braucht man verläßliche Information und ein zutreffendes Urteil über die Wissenschaften in der DDR. Wie stand es wirklich um ihre Leistungskraft? Was war das Besondere an den Wissenschaften in der DDR, wenn man sie vergleichend betrachtet? Wie erklären sich ihre spezifischen Schwächen? Gab es auch spezifische Stärken, etwa Problemlösungen, die aus den besonderen Bedingungen der DDR resultierten und die unter den neuen Bedingungen des vereinigten Deutschland nicht obsolet wurden, sondern aufgenommen und weiterentwickelt wurden, werden könnten oder sollten?
Schließlich ein weiteres Bündel von Fragen, die allerdings im Forschungsbericht der Arbeitsgruppe im Hintergrund bleiben und nur zum Schluß des Bandes kurz und selektiv angeschnitten werden: Welche Rückwirkungen hat die Einbeziehung des Ostens auf das sich erweiternde westdeutsche Wissenschaftssystem? Man sagt häufig, daß die "Berliner Republik" keine bloße Verlängerung der alten Bundesrepublik sein wird. Gilt das auch in bezug auf das System, die Praxis, die Leistungskraft der Wissenschaften? Was läßt sich aus den Schwächen und Stärken der DDR-Wissenschaft für das zukünftige Handeln lernen, was aus der Dynamik und den Stockungen, den Erfolgen und Mißerfolgen des wissenschaftlichen Vereinigungsprozesses? Die Bundesrepublik hängt sehr stark von ihrer wissenschaftlichen Leistungsfähigkeit ab, von einem richtig verstandenen Verhältnis zwischen Grundlagen- und angewandter Forschung, von hinreichender Zukunftsvorsorge für die Entwicklung der Wissenschaften in einem differenzierten, aber in sich verträglichen Wissenschaftssystem. Die Bundesrepublik befindet sich in einer kritischen Phase ihrer Entwicklung, auch was ihre wissenschaftliche Zukunftsfähigkeit betrifft. Die Vereinigungskrise hat die Schwächen des Gesamtsystems schärfer hervortreten lassen, vielleicht auch verstärkt. Mehr als bisher sollte versucht werden, aus der Vereinigungskrise über die Weiterentwicklung des verbesserungsbedürftigen deutschen Wissenschaftssystems in seinen internationalen Zusammenhängen zu lernen, Innovation zu erleichtern, Zukunftsaufgaben zu beschreiben und Lösungen zu diskutieren. Die historisch-empirische Bestandsaufnahme ist zwar auch Zweck in sich. Zugleich sollte sie aber dem Ziel dienen, Möglichkeitsbewußtsein und institutionelle Phantasie anzuregen und damit Voraussetzungen für zukunftsgerichtete Handlungsempfehlungen zu schaffen, die der Öffentlichkeit zu unterbreiten sind.
(Jürgen Kocka, Einleitung in: Kocka, J. & R. Mayntz (Hg.): Wissenschaft und Wiedervereinigung. Disziplinen im Umbruch, (Forschungsberichte der Interdisziplinären Arbeitsgruppen der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 6), Berlin: Akademie Verlag, 1998)