Im Rahmen der vier deutschen königlich-preußischen „Turfan-Expeditionen“ zwischen 1902–1914 gelangte ein ungeheurer Schatz an Kunstgegenständen und Handschriften aus Ost-Zentralasien (damals Ost-Turkestan) nach Berlin.
Die Kunstgegenstände der Turfansammlung befinden sich heute im Museum für Asiatische Kunst (vormals Museum für Indische Kunst) in Berlin-Dahlem; fast alle handschriftlichen Materialien wurden ab 1914 der damaligen Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften zur Bearbeitung übergeben.
Die circa 40.000 Fragmente der Turfansammlung enthalten vor allem Texte in Sanskrit, Chinesisch, Altuigurisch (= Alttürkisch), Tocharisch und Syrisch sowie in verschiedenen iranischen Sprachen. Inhaltlich dominieren verschiedene Gattungen buddhistischer Literatur, aber auch umfangreiche Reste christlicher und unikaler manichäischer Literaturen und Wirtschaftsdokumente sind enthalten.
Auf die besondere Lage der Turfansenke, die durch extrem geringe Niederschlagsmengen gekennzeichnet ist, und die Geschichte des Ortes als eines der zwei Zentren des Westuigurischen Königreiches – die Erforschung des anderen, Bešbaliq, steht noch am Anfang – ist es zurückzuführen, dass dort und in angrenzenden Gebieten im Laufe von mehr als eintausend Jahren – vom 2. bis zum 14. Jahrhundert – unterschiedliche Texte verfasst, übersetzt und über lange Zeiträume hinweg tradiert und bewahrt wurden. Die deutschen Expeditionen haben auch weitere Stätten des nördlichen Zweigs der Seidenstraße in Ost-Zentralasien aufgesucht. So enthält die Berliner Turfansammlung die weltweit vielfältigste Sammlung von Texten und Textfragmenten aus Ost-Zentralasien.
Schwerpunkte der Editionstätigkeit: Die altuigurischen und iranischen Fragmente
Die altuigurischen Fragmente stellen die Überreste einer vielfältigen Schriftkultur der ersten türkischen Literatursprache dar, die nach der Landnahme der vorher nomadisierenden Uiguren entstand. Dieses Textkorpus besteht zum überwiegenden Teil aus buddhistischen Werken verschiedenster Prägung. Bedeutende Werke des Hīnayāna und des Mahāyāna sowie des tantrischen Buddhismus sind in handschriftlichen und mit Blockdruck hergestellten Fassungen überliefert. In der Hauptsache setzt sich die buddhistische Literatur der alten Uiguren aus Übersetzungen unterschiedlicher Quellensprachen (Tocharisch, Chinesisch, Tibetisch, Sanskrit) zusammen. Es sind aber auch Originalwerke wie Stabreimdichtungen und dichterische Neubearbeitungen anderssprachiger Vorlagen erhalten. Auch manichäische und christliche Werke sind vertreten, die die Entstehung eines jeweiligen religionsspezifischen Vokabulars belegen. Die manichäisch-türkische Literatur ist sprachhistorisch von besonderer Bedeutung, da diese Texte in der Mehrzahl einer frühen Sprachstufe des Altuigurischen zuzurechnen sind.
Hervorzuheben sind diejenigen Werke, die in keiner anderen Quellensprache des Manichäismus vertreten sind. Als gesprochene Sprache und zugleich eine der Verwaltungssprachen der Turfanoase ab dem 9. Jahrhundert erscheint Altuigurisch in unzähligen Urkunden, Briefen und einigen volksreligiösen Texten und erlaubt damit Einblicke in das wirtschaftliche und soziale Leben der Bevölkerung dieses weiträumigen Territoriums.
Die iranischen Fragmente in der Turfansammlung sind sehr vielfältig. Es handelt sich um mittelpersische und parthische Fragmente in manichäischer und sogdischer Schrift und um umfangreiches sogdisches Material in verschiedenen Schriften. Obwohl Turfan kein eigentlich iranischsprachiges Gebiet war, hatte Sogdisch hier den Status einer ‚lingua franca’. Die (sogdisch- und türksprachigen) Manichäer in Turfan verwendeten mittelpersische, parthische, sogdische und altuigurische Texte; auch die christliche Gemeinde war mehrsprachig und verwendete syrische, sogdische, alttürkische, mittel- und neupersische Texte. Die Tatsache, dass für viele der christlichen und buddhistischen Texte eine syrische bzw. chinesische Vorlage existiert, erlaubt eine relativ sichere Deutung selbst schwieriger Teile der sogdischen Übersetzungen einschließlich sonst nicht belegter Wörter.
Editionstätigkeit in Zusammenarbeit mit Katalogisierung
Parallel zum Editionsvorhaben sind in der Berliner Arbeitsstelle zwei Kolleginnen des Göttinger Akademienvorhabens Katalogisierung der orientalischen Handschriften in Deutschland (KOHD) mit der Aufgabe betraut, die altuigurischen und die sogdischen Fragmente der Turfansammlung zu katalogisieren. Diese Katalogisierung leistet eine grundlegende Vorarbeit für die Editionstätigkeit und ergänzt die Editionsarbeit der Turfanforschung in hervorragender Weise, indem sie z. B. Textgruppen unter den Fragmenten ausfindig macht sowie Fragmente mit ähnlichen Formaten oder Schriften identifiziert.
Kooperationspartner
Die Arbeitsstelle Turfanforschung ist die einzige Wissenschaftlergruppe weltweit, die direkt an einer Handschriftensammlung angesiedelt ist und diese bearbeitet. Nur diese Konstellation ermöglicht eine kontinuierliche Arbeit auf höchstem Niveau und hat auch bewirkt, dass das Akademienvorhaben Turfanforschung ein weltweit beachtetes Zentrum für die Erforschung Zentralasiens und ein Treffpunkt vieler Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler geworden ist. Vor allem japanische, chinesische, uigurische, iranische, türkische, ungarische, russische, italienische, französische, britische und amerikanische Kollegen studieren die Texte der Sammlung. Verschiedene japanische Institutionen (u. a. Ryukoku University und Kyoto University) haben Kooperationsvereinbarungen mit der Turfanforschung geschlossen (u.a. im Rahmen der Bearbeitung und Katalogisierung der chinesischen Fragmente).
Eine Vereinbarung zwischen dem Turfan Museum (Xinjiang/China), einer japanischen Gruppe unter der Leitung von H. Umemura und der BBAW/AV Turfanforschung mit dem Ziel, die seit 1980 durch die archäologische Arbeit des Museums gefundenen nicht-chinesischen Texte zu katalogisieren und zu edieren, wurde im Oktober 2008 im Rahmen einer Konferenz der Turfanakademie in Turfan unterzeichnet.
Die BBAW/Turfanforschung hat einen Depositarvertrag mit der Staatsbibliothek zu Berlin. Er regelt die Aufbewahrung, Verwaltung, Benutzung und Konservierung der Turfansammlung. Die chinesischen, Sanskrit-, tocharischen, tibetischen, syrischen und mongolischen Fragmente befinden sich im Magazin der Orientabteilung der Staatsbibliothek; als Leihgabe werden die altuigurischen und iranischen Fragmente im Archiv der Turfanforschung in der Akademie aufbewahrt. Die Digitalisierung der Sammlung mit der finanziellen Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft wurde zusammen mit der Orientabteilung, der Fotostelle und dem Restaurierungslabor der Staatsbibliothek in mehreren Phasen durchgeführt und befindet sich gegenwärtig in der letzten Phase (Digitalisierung der syrischen und Sanskrit-Fragmente).
Ferner besteht eine enge Kooperation mit dem International Dunhuang Project der British Library London (IDP-London ), das zunächst von der Erfassung der britischen Zentralasien-Sammlung (Aurel Stein-Sammlung) ausgehend inzwischen eine weltweite Plattform für die digitale Erfassung der Funde aus Zentralasien in den Sammlungen bietet, d. h. die Berliner Fragmente sind neben denen der Sammlungen in London, Beijing, St. Petersburg, Kyoto und Paris in einem einheitlichen System elektronisch abrufbar. Die Turfanforschung hat als IDP-Berlin eine deutschsprachige Webpräsenz auf dem BBAW-Server eingerichtet. Auf den regelmäßig stattfindenden IDP-Tagungen werden auch Probleme der Aufbewahrung, Verwaltung und Konservierung zentralasiatischer Sammlungen diskutiert und gemeinsame Lösungsansätze erarbeitet.
Das Museum für Asiatische Kunst , dessen Vorgänger, das Museum für Völkerkunde, einst die Turfanexpeditionen beauftragte und durchführte, besitzt eine große Sammlung von Wandgemälden, Kunstgegenständen, Kleinfunden, aber auch eine kleine Sammlung von Textfragmenten. Intensive Berührungspunkte mit dem Museum bestehen in den folgenden Forschungsbereichen: 1. Zusammenhang zwischen Text und Bild (buddhistisch, manichäisch, christlich) 2. Bearbeitung von Texten und Inschriften in den Museumsbeständen und 3. Ausstellungen.
In Kooperation mit der Freien Universität Berlin ist die Turfanforschung an der Nachwuchsförderung durch regelmäßige Lehrveranstaltungen an den Instituten für Turkologie und Iranistik beteiligt; sie hat 2006 auch eine Sommerschule in der Akademie veranstaltet. Gespräche in Hinblick auf die Beteiligung der Mitarbeiterin und der Mitarbeiter der Turfanforschung an der Lehre und somit an der Nachwuchsförderung in China wurden im Oktober 2008 mit chinesischen Universitäten in Urumqi (der Hauptstadt der uigurischen autonomen Region Xinjiang, China) und in Beijing geführt.