Weite Bereiche unseres alltäglichen Lebens, insbesondere die technischen, biologisch-medizinischen und sozialen Systeme, sind von Anpassungs-, Optimierungs- und Entscheidungsvorgängen geprägt, die zusammenfassend als Strukturbildungs- oder Innovationsprozesse interpretiert werden können.
Eine Gemeinsamkeit vieler dieser Prozesse besteht in ihrem evolutionären Charakter. Ausgehend von einer Anfangsstruktur, einer Ausgangssituation oder Anfangsinformation werden durch bewusst eingeleitete oder extern verursachte Veränderungen von Schlüsselparametern alte Strukturen verändert und neue geschaffen.
Im Fokus der in der Studiengruppe zu untersuchenden Prozesse stehen solche, für die Ziele als Desiderata definiert werden können, die in kausaler Abhängigkeit zu einer benennbaren Menge von Gestaltungsparametern stehen. So kann etwa das Erreichen eines minimalen Brennstoffaufwands bei der Stromerzeugung in einem Kraftwerk durch geeignet gewählte Temperaturen und Drücke in den verschiedenen Baugruppen eingestellt werden. Die Zuweisung möglicher Behandlungsstrategien bei der Notaufnahme von Patienten in Krankenhäusern soll in Abhängigkeit der beobachtbaren Symptome so vorgenommen werden, dass deren Lebenserhaltung die höchste Wahrscheinlichkeit hat. In technischen Systemen wird der angesprochene Kausalzusammenhang in der Regel durch eine mathematische Abbildung oder auch prozedural definiert sein. (Unter einer prozeduralen Definition sei hierbei verstanden, das zwar z.B. ein Computercode zur Simulation des Systemverhaltens existiert, dessen interne Ablaufschemata jedoch im Detail nicht bekannt sind.) In biologisch-medizinischen und sozialen Systemen liegen entweder auch solche Abbildungen, häufiger aber noch empirische Erkenntnisse über die Zusammenhänge vor, bis hin zu Daten aus statistischen Fallstudien.
Trotz der offensichtlichen Gemeinsamkeiten wurden Strukturbildungsprozesse bisher in den diversen Fachdisziplinen ohne nennenswerte transdisziplinäre Wechselwirkung untersucht. Vielmehr haben sich ganz unterschiedliche Analysemethoden entwickelt. In den mathematischen, naturwissenschaftlich-technisch geprägten Disziplinen besteht der dazu eingeschlagene Weg üblicherweise in der Modellierung und Abbildung der Prozesse in mathematisch-prozedurale Schemata. Diese können dann auf ihre Eigenschaften untersucht und darauf aufbauend gezielt verändert werden. In den sozialwissenschaftlich geprägten Disziplinen sind die Methoden typisch eher qualitativ, das Medium der Analyse ist die Sprache, und Entscheidungsvarianten werden heuristisch diskutiert.
Auch bei grundsätzlicher Berechtigung unterschiedlicher methodischer Ansätze in unterschiedlichen Disziplinen werden heute zunehmend Berührungsflächen gesehen, die einen integrativen Lösungsansatz nahe legen. So stellt man bei technisch-naturwissenschaftlich geprägten Aufgabenstellungen häufig fest, dass mathematisch-prozedurale Modelle der Komplexität der Probleme nicht gerecht, vielmehr durch inhärente Wissensdefizite konterkariert werden. Hier wäre die systematische Einbindung qualitativen, heuristischen Wissens ein Lösungsansatz. Gleichzeitig findet man in geisteswissenschaftlich geprägten Forschungsbereichen häufig statistische Grundlagen, die den Einsatz von Simulationstechniken und damit formaler, quantitativer Verfahren erlauben. Es wäre ein Desiderat, insbesondere politische und gesellschaftsbezogene Analysen und Entscheidungen hierdurch auf eine systematische und möglichst weitgehend objektivierte Basis zu stellen. Diese methodischen Berührungsflächen gilt es aufzudecken und die Möglichkeiten der transdisziplinären Übernahme von Ansätzen auszuloten.
Nach über einjähriger Vorbereitung, in der zahlreiche Gespräche mit herausragenden Vertretern unterschiedlicher Wissenschaftsdisziplinen geführt wurden, fand auf Beschluß des Konvents der Akademie und mit freundlicher Unterstützung der Hermann und Elise Geborene Heckmann Wentzel-Stiftung vom 24. bis 26. Mai 2002 der Workshop Computergestützte Analyse evolutionärer Optimierungsprozesse in komplexen Systemen in der Tagungsstätte der Akademie in Blankensee statt. Am Workshop beteiligten sich neben externen Experten Mitglieder der Mathematisch-naturwissenschaftlichen, der Biowissenschaftlich-medizinischen, der Technikwissenschaftlichen und der Sozialwissenschaftlichen Klasse der BBAW.
Aus diesem Treffen heraus entwickelte sich die nun etablierte Studiengruppe als interdisziplinäre Diskussionsrunde, die ihre Tätigkeit unter einer gegenüber dem Workshop leicht veränderten Zielsetzung am 28.2.2003 in einem Auftakttreffen aufgenommen hat.
Die kommenden drei Jahre werden jeweils einem der drei Schwerpunktbereiche Mehrkriterielle Problemstellungen, Begrenzte Rationalität der Formulierbarkeit von Zielsetzungen und Unscharfe Zieldefinitionen gewidmet sein. Der Studiengruppe gehören derzeit bereits Vertreter der Betriebswirtschaft, Biologie, Mathematik, Mechanik, Medizin, Soziologie, Thermodynamik und Volkswirtschaft an. Die Einbindung weiterer Fachdisziplinen ist noch offen.
Nach einem ersten Zusammentragen der themenbezogenen Arbeitsgebiete der Gruppenteilnehmer im diesjährigen Schwerpunktbereich "Mehrkriterielle Problemstellungen" wird zunächst eine Übersicht über diese Aktivitäten unter Aufzeigen der Gemeinsamkeiten und Differenzen der verschiedenen Ansätze erstellt. Diese wird während eines ersten Workshops im Juni 2003 diskutiert werden. Es wird hierbei versucht, transdisziplinäre Übertragungspotenziale zu identifizieren. Daneben wird in begleitenden kleineren Projekten versucht, die Methodiken verschiedener Fachdisziplinen auf gemeinsame Problemstellungen anzuwenden, um die Stärken und Schwächen unterschiedlicher Vorgehensweisen und Modelle zu vergleichen. Es wird erwartet, Ergebnisse dieser Aktivitäten auf dem zweiten diesjährigen Workshop der Studiengruppe im November diskutieren zu können.