Zwei Vorgänge haben dem schon lange virulenten Streitthema „Staatsschulden“ in der öffentlichen Debatte einen besonders prominenten Platz verschafft: die weltweite Explosion der Staatsverschuldung als Folge der schweren Finanz- und Wirtschaftskrise seit 2008 – der seit 2010 die Schuldenkrise einiger Eurostaaten folgt – und die Verankerung der sogenannten Schuldenbremse im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland zur Jahresmitte 2009 sowie die daran anschließenden und zum Teil schon erfolgreichen Bemühungen der Bundesregierung, andere Mitgliedsländer des Euroraums für ähnliche Regelungen in deren Verfassungen zu gewinnen.
Argumente und Standpunkte, die in den Medien, von politischen Entscheidungsträgern und auch von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern dazu vertreten werden, sind nicht nur äußerst kontrovers. Sie beruhen häufig auch auf Dogmen, wirtschaftlichen Interessen, falschen Analogien und mangelnden Kenntnissen über volkswirtschaftliche Kreislaufzusammenhänge sowie politische Prozesse. Besonders in Deutschland sind sie wegen der Erfahrung zweier großer Inflationen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zusätzlich von der Angst geprägt, dass hohe Staatsschulden letztendlich wieder zu einer großen Inflation führen.
Es ist also unbedingt erforderlich, das Thema zu versachlichen und auf wichtige Fragen zur Staatsverschuldung grundsätzliche Antworten zu geben. Daher hat die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina in Verbindung mit der BBAW und acatech die interdisziplinäre Arbeitsgruppe „Staatsschulden in der Demokratie: Ursachen, Wirkungen und Grenzen“ eingesetzt. In ihr arbeiten Expertinnen und Experten der Wirtschaftswissenschaft, Politikwissenschaft, Soziologie, Geschichtswissenschaft und des Staatsrechts zusammen.
Ein zentraler Begriff in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit diesem Thema ist die Schuldenstandsquote. Mit ihr werden die Schulden aller staatlichen Ebenen einschließlich der Extrahaushalte, wie die der Sozialversicherungen, in Relation zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) beziffert. Die Schuldenstandsquote der Bundesrepublik Deutschland in der Maastricht-Abgrenzung erreichte 2010 den Rekordwert von 83,0 Prozent des BIP gegenüber 66,7 im Jahr 2008. Das Bundesfinanzministerium rechnet 13,5 Prozentpunkte des Rekordwerts den staatlichen Stützungsmaßnahmen zugunsten des Finanzsektors zu. Davon sind allein 9,5 Prozentpunkte 2010 aus der Ausgliederung der Abwicklungsanstalten – „Bad Banks“ – der Hypo Real Estate und der WestLB entstanden, die mit ihren Schulden statistisch dem Sektor Staat zugeordnet sind. Vor allem wegen der Abschmelzung der übertragenen Portfolios und wegen des relativ starken Wirtschaftswachstums und der deswegen sprudelnden Steuerquellen ging die Quote 2011 auf 81,2 Prozent zurück. Im Gegensatz dazu stieg sie in Großbritannien auf 86, in den USA auf mehr als 100, in Japan sogar auf über 200 Prozent weiter an. Dennoch konnten alle genannten Staaten ihre Schuldverschreibungen nach wie vor zu Bestkonditionen auf dem global vernetzten Kapitalmarkt platzieren, ebenso wie Länder mit deutlich niedrigeren Schuldenstandsquoten: Luxemburg mit 20, Schweden 36, Türkei 40, Schweiz 42 und Dänemark 44 Prozent des BIP. Inflationsängste stellten sich als unbegründet heraus. Dringend zu fragen ist also: Unter welchen historischen Umständen sind hohe Schuldenstandsquoten tatsächlich in Staatsbankrotte oder extreme Inflationen umgeschlagen? Und: In welchem Ausmaß darf oder muss der Staat sich verschulden, um in großen Finanz- und Wirtschaftskrisen systemrelevante Banken zu retten?
Auch für die Beantwortung der Frage, ob ein Schuldenverbot in die Verfassung gehört, ist ein Blick in die Geschichte interessant. Eine zentrale Errungenschaft des Wirtschaftsbürgertums war es, die Steuer- und Ausgabenpolitik der Fürsten und Monarchen einer parlamentarischen Kontrolle zu unterwerfen. Die Bürger waren an nachhaltiger Stabilität der Staatsfinanzen und Währungsverhältnisse interessiert, weil sich Produktion, Handel und Kredit auf dieser Grundlage, letztlich auch zum Vorteil der Fürstenkassen, besser kalkulieren und betreiben ließen. Mit ihren Schulden schlugen die Monarchen immer wieder über die Stränge, um Söldner für die Kriegsführung zu kaufen oder um sich mit Schlössern und gezirkelten Parkanlagen sowie prunkvollen Empfängen und Jagden gegenseitig zu übertrumpfen. Am Ende wurde entweder der Schuldendienst auf die Anleihen verweigert, die Steuerschraube drastisch angezogen oder durch Münzverschlechterung eine Inflation in Gang gesetzt. Für eine kalkulierbare Entwicklung und eine nachhaltige Entfaltung der Geschäfte war dies Gift. Die Budgetrechte der Parlamente sollten solchen Exzessen einen Riegel vorschieben.
Doch in den letzten vier Jahrzehnten waren es die Parlamente selbst, welche den Anstieg der Schuldenstandsquote nicht in den Griff bekommen haben. Sie verordnen sich Schuldenbremsen per Gesetz oder Verfassungsänderung, weil sie der Versuchung des Schuldenmachens nur schwer widerstehen können. Das erinnert an Odysseus, der sich an den Mast seines Schiffes fesseln ließ, um in der Nähe der Sirenen-Insel den betörenden Lockrufen nicht zu erliegen, und wirft zugleich weitere Fragen auf: In welchem politischen Umfeld entsteht eine lockere, in welchem eine restriktive Finanzpolitik? Und: Steigt mit der Laufzeit der Staatsschulden deren Tragbarkeit? Welche Rolle spielt die Mentalitätsgeschichte eines Landes und gibt es Pfadabhängigkeiten?
Die Schuldenstandsquote der Bundesrepublik verharrte lange Zeit auf niedrigem Niveau. Von 1950 bis 1974 bewegte sie sich um die 20 Prozent, ohne ansteigenden Trend. Die durchschnittliche Zuwachsrate der Staatsschulden lag damals mit 10,1 Prozent p.a. zwar wesentlich höher als die 3,1 Prozent p.a. von 1996 bis 2008. Diese wurde aber während der „Wirtschaftswunderjahre“ voll kompensiert durch eine sogar leicht höhere Zuwachsrate des nominalen, das heißt nicht preisbereinigten, BIP von 10,3 Prozent p.a. im Nenner der Quote.
Seit 1974 flachte nicht nur in Deutschland, sondern in allen industrialisierten Ländern das Wirtschaftswachstum stark ab. Dementsprechend hätte die durchschnittliche Zuwachsrate der Staatsschulden zurückgehen müssen, um die Schuldenstandsquote auf dem circa 20-Prozent-Niveau zu halten. Das ist nicht eingetreten, weil mit dem Einbruch des Wirtschaftswachstums und der dadurch gestiegenen Arbeitslosigkeit die Einnahmen aus Steuern und Sozialabgaben weit hinter dem Erwarteten zurückblieben, während die Ausgaben für Soziales automatisch stiegen. So entwickelte sich aus dem flacheren Wachstumspfad eine steigende Schuldenstandsquote, und zwar in drei Schüben:
Der erste fand von 1974 bis 1983 statt, als die Staatsverschuldung jährlich sogar um 15 Prozent stieg, während das nominale BIP nur um 6,1 Prozent p.a. zulegen konnte. Resultat: Die Schuldenstandsquote verdoppelte sich von 19 auf 38 Prozent. Danach, d.h. 1983–1991, wurde Konsolidierungspolitik betrieben. Die durchschnittliche Zuwachsrate der Staatsschulden lag bei nur noch 7,2 Prozent pro Jahr. Mit fast 7 Prozent konnte der jährliche Zuwachs des nominalen BIP da noch gut Schritt halten, so dass die Quote nur um einen Prozentpunkt anstieg.
Der zweite Schub kam nach der Wiedervereinigung. Die Staatschulden wuchsen von 1991 bis 1996 wieder rasant mit mehr als 14 Prozent jährlich. Jedoch betrug die Zuwachsrate des nominalen BIP nur noch 4,1 Prozent pro Jahr. Diese Konstellation bewirkte den sprunghaften Anstieg der Schuldenstandsquote von 39 auf 58 Prozent in jenem Zeitraum. Danach betrieb die Bundesregierung, auch im Hinblick auf die Euro-Einführung und die Maastricht-Kriterien, eine besonders harte Konsolidierungspolitik, das heißt die durchschnittliche Zuwachsrate
der Staatsschulden wurde auf nur noch 3,6 Prozent p.a. in den Jahren von 1996 bis 2005 herabgedrückt. Jedoch beeinträchtigte dieser Sparkurs auch die Zuwachsrate des nominalen BIP, die auf nur noch 2,0 Prozent p.a. fiel. Ergebnis: Die Schuldenstandsquote stieg von 58 Prozent 1996 auf 68 Prozent 2005 weiter an. Erst als danach das Wirtschaftswachstum Fahrt aufnahm, sank bei fortgesetztem Konsolidierungskurs die Quote bis 2007 wieder um drei Prozentpunkte.
Den dritten Schub löste die weltweite Finanz- und Wirtschaftkrise aus. Von 2008 bis 2010 stagnierten mit dem Rückgang der Wirtschaftsleistung die Steuereinnahmen, während die Ausgaben für Soziales automatisch und für die Konjunkturpakete durch neue Gesetze weiter stiegen. Das trieb die staatliche Kreditaufnahme in die Höhe. Für die Explosion der Schuldenstandsquote von 66,7 auf 83,0 Prozent in nur zwei Jahren waren allerdings die schon erwähnten Rettungsmaßnahmen für angeschlagene Banken von überragender Bedeutung. Es bleibt jedoch genau zu klären, inwieweit das weltweit überproportionale Wachstum des Finanzsektors in den letzten 30 Jahren – als Folge der Deregulierung und Globalisierung – und die seitdem wieder häufig auftretenden Finanzkrisen zu den immer größeren Löchern in den Staatskassen beigetragen haben.
Gewiss und unstrittig hingegen ist die Schuldenstruktur der deutschen Volkswirtschaft: Am Jahresende 2010 waren nach Angaben der Bundesbank alle inländischen Sektoren mit 17,5 Billionen Euro verschuldet: die privaten Haushalte mit 1,5 Billionen am wenigsten, der Staat mit 2,2 Billionen Euro, die nichtfinanziellen Kapitalgesellschaften mit 3,9 und die finanziellen Kapitalgesellschaften mit 10,0 Billionen Euro, das heißt stärker als alle anderen Sektoren zusammen. Aber unter welchen Bedingungen stimmen die Argumente, Staatschulden würden die künftigen Generationen belasten und wegen der Zinszahlungen die Handlungsspielräume des Staats für die Wahrnehmung seiner eigentlichen Aufgaben einschränken? Und ist nicht der Anstieg der Schuldenstandsquote der finanziellen Kapitalgesellschaften in Deutschland von 137 Prozent des BIP 1975 auf 400 Prozent 2010 das eigentliche Problem? Denn dieser weltweit zu beobachtende verstärkte Einsatz des „Schuldenhebels“ im Finanzsektor hat das Wiederauftreten schwerer Finanzkrisen ermöglicht, welche ihrerseits zum Anstieg der Staatsschulden erheblich beigetragen haben.
Die Arbeitsgruppe wird eine allgemein verständliche Broschüre mit wissenschaftlich begründeten Erkenntnissen aus den Blickwinkeln der beteiligten Fächer erarbeiten. Mit dieser werden die drei Akademien gemeinsam an politische Entscheidungsträger, die Medien und die interessierte Öffentlichkeit herantreten, um zur allgemeinen Aufklärung über das Thema und zur besseren Einschätzung des Gefahrenpotentials einer Erhöhung oder eines Abbaus der Staatsverschuldung beizutragen. Gedankliche Irrläufer und Kurzschlüsse in der öffentlichen Debatte sollen kenntlich gemacht, die unterschiedlichen Fundamente unüberbrückbarer theoretischer Positionen offen gelegt und so eine Versachlichung des Diskurses gefördert werden.
„Schuld“ hat im Deutschen eine doppelte Bedeutung, so dass der finanziellen Schuld immer auch etwas vom Odium der moralischen Schuld anhaftet. Im Englischen dagegen gibt es zwei Begriffe: „debt“ und „guilt“. Ähnlich ist es im Französischen, Spanischen, Italienischen und in vielen anderen Sprachen. Neben den zwei großen deutschen Inflationen mag auch dies erklären, warum die deutsche Bevölkerung eine größere Scheu vor dem Schuldenmachen hat als die Angelsachsen und die Bevölkerung des romanischen Sprachraums. In diesen Ländern hat die überseeische Expansion von Handel sowie Schiffs-, Geld- und Kreditverkehr im „Handelskapitalismus“ seit dem Mittelalter eine viel frühere und größere Rolle gespielt als hierzulande. Deutschland blieb bis in die letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts hinein relativ arm. Das Bürgertum der früh in den Fernhandel und nach Übersee strebenden Länder konnte der Kreditaufnahme als Quelle der Erwirtschaftung von Wohlstand und Reichtum sehr wohl eine positive Seite abgewinnen, die nichts mit moralischer „Schuld“ zu tun hatte und vielleicht deshalb sprachlich in der Trennung der Begriffe Ausdruck fand.
(Aus: Carl-Ludwig Holtfrerich: Streitthema Staatsschulden. - In: Die Akademie am Gendarmenmarkt 2012/13, hg. v. Präsidenten der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Günter Stock, Berlin 2012, S. 52-57)