Normativität spielt in unterschiedlichen Kontexten menschlichen Handelns eine Rolle. Sie beeinflusst die Interaktion von Menschen miteinander und den Umgang von Menschen mit ihrer Umwelt. Der ontologische Status von Normativität ist jedoch problematisch. Muss Normativität logisch vorgängig und unabhängig von Menschen sein, um objektiv sein zu können? Oder entsteht sie erst in Abhängigkeit von Menschen, die sie formulieren oder nach ihr handeln und ist deshalb nicht objektiv? Oder ist diese Dichotomie grundsätzlich verfehlt und es bedarf eines anderen Ansatzes, um die Rolle von Normativität in der lebensweltlichen Verständigungspraxis angemessen zu verstehen? Und: Ist Normativität in allen Bereichen, in denen sie auftritt, in derselben Weise zu verstehen?
Die Initiative "Normativität – Objektivität – Handlung" widmet sich diesem Problemkomplex und bemüht sich zum einen um eine präzise Bestimmung der Titelbegriffe sowie zum anderen um eine Verhältnisbestimmung der verschiedenen Felder menschlicher Praxis, in denen Normativität eine Rolle spielt. Besondere Aufmerksamkeit wird dabei den Bereichen Moral und Wissenschaft gewidmet.
 

Der Hintergrund: Drei zentrale Impulse
 

Die Arbeitsgruppe geht im Rahmen der aktuellen Debatten zu Normativität, Objektivität und Handlung drei zentralen Impulsen nach, die auf Einsichten basieren, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von so unterschiedlichen philosophischen Strömungen wie der Phänomenologie, der analytischen Philosophie (ordinary language philosophy), dem Pragmatismus und dem Existenzialismus entwickelt wurden.
 

I. Einheit von Theorie und Praxis


Ein charakteristisches Element des Denkansatzes, der in der Initiative erprobt und weiterentwickelt werden soll, ist die Skepsis gegenüber den Dichotomien, die die philosophische Tradition seit der Antike in hohem Maße prägen: die Dichotomie zwischen Materialismus und Idealismus, zwischen Realismus und Konstruktivismus, zwischen Deontologie und Teleologie, zwischen Sein und Sollen etc. Diese Skepsis kann in zweierlei Weise begründet werden. Auf der einen Seite ist sie Ausdruck einer anti-reduktionistischen Einstellung, die schon die pragmatistische Kritik des Rationalismus speiste. Denn jede dieser Dichotomien scheint in einer Art Radikalisierung ihren Ursprung zu haben, wonach das Gesamt der philosophischen Urteilspraxis sich in einer ganz spezifischen Weise vereinfachen, eben reduzieren lasse. Die andere, interessantere Form der Begründung ist jedoch die These von der Einheit von Theorie und Praxis. Demnach speisen sich die verbreiteten Dichotomien aus einer Ablösung philosophischen Denkens von der alltäglichen Urteils- und Interaktions-Praxis. Diese Einheitsthese wirft jedoch eine Vielzahl systematischer philosophischer Probleme auf, die von der Gruppe ebenfalls thematisiert werden.
 

II. Anti-Fundamentalismus


Ein weiterer Ausgangsimpuls der Initiative ist ein Anti-Fundamentalismus bzw. die Kritik des Rationalismus. Diese Charakterisierung kann leicht missverstanden werden. Gemeint ist nicht etwa, dass auf Rationalität im Sinne einer Begründung von Überzeugungen und Handlungen kein Wert zu legen wäre, oder dass es gar einer irrationalistische Anthropologie bedürfe. Gemeint ist die Ablehnung einer spezifischen Form des philosophischen Rationalismus, wonach die Quellen der Gewissheit außerhalb der konkreten Begründungspraxis liegen. Deweys Befund etwa erscheint zutreffend: Das Streben nach absoluter Gewissheit hat die Philosophie schon in der griechischen Klassik, besonders aber seit dem 17. Jahrhundert in die Irre und zu hypertrophen philosophischen und wissenschaftlichen Modellen einer Neubegründung allen Wissens geführt. Die cartesischen Meditationes sind hier der entscheidende Referenzpunkt – elaboriertere Versionen finden sich bei Leibniz und Spinoza. Der Rationalismus im engeren Sinne lässt sich dadurch charakterisieren, dass unser gesamtes Wissen aus einem Prinzip (oder mehreren) der Vernunft, das jeden Zweifels enthoben und keiner empirischen Bewährung bedürftig ist – deduktiv – gewonnen werden kann. Das synthetische Apriori Kants kann man als Rückzug, aber nicht als eine Aufgabe des rationalistischen Projektes verstehen. Das rationalistische Projekt wird gewissermaßen eingeschränkt, der empirischen Erfahrung im Rahmen der Anschauungsformen von Raum und Zeit Raum gegeben und doch gibt es für den für menschliche Erkenntnis zentralen Bereich der synthetischen Urteile a priori keine Bewährungsinstanz außerhalb der (reinen) Vernunft. Die Erfolge der empirischen Naturwissenschaften, später auch der empirischen Sozialwissenschaften drängen den Rationalismus zurück, er bleibt aber prägend für einen Großteil der europäischen und auch der US-amerikanischen Philosophie bis in die Gegenwart.
 

III. Aufwertung der pragmatischen Dimension menschlicher Existenz


Menschliches Handeln ist das Zentrum der conditio humana. Das ist der dritte Impuls, dem in der Initiative nachgegangen werden soll. Interessanterweise ist die stoizistische und die pragmatistische Form der systematischen Einheit von Theorie und Praxis komplementär. Für Stoiker ist es das Urteil (krisis), das das Handeln leitet und das den Menschen zum Vernunftwesen macht. Für Pragmatisten äußert sich in der Handlung die normative und deskriptive Stellungnahme – und sie bleibt an diese gebunden. Dies blockiert die Abkopplung wissenschaftlicher Rationalität von lebensweltlicher. Aber auch hier sind eine Vielzahl von systematischen Fragen aufgeworfen: Ist die theoretische oder praktische Stellungnahme in die Empirie menschlichen Verhaltens auch begrifflich überführbar? Ebenso scheint die Gewichtung des Experiments in der Naturwissenschaft und das Leitbild Naturwissenschaft für andere Wissenschaftsbereiche angesichts der Entwicklung der allgemeinen Wissenschaftsphilosophie der letzten Jahrzehnte überzogen zu sein. Die Balance zwischen einer Wissenschaftsphilosophie, die um den Begriff des Paradigmas kreist und in ihren extremen Formen zum radikalen Konstruktivismus neigt (in den schwächeren zum Instrumentalismus), und dem logischen Empirismus, aber auch dem pragmatistischen Experimentalismus muss eine Balance erst gefunden werden.
 

Kontakt
Dr. Ute Tintemann
Leiterin Referat IAG
Referat Interdisziplinäre Arbeitsgruppen
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