Ausgangssituation und Struktur der Arbeitsgruppe

Ländliche Räume haben in der öffentlichen Diskussion lange Zeit ein Schattendasein geführt. Als vermeintlich rückständiger Gegenpol zu den industriell geprägten und dicht besiedelten Ballungsräumen assoziiert man mit ihnen wirtschaftliche Strukturschwäche und eine hohe Arbeitslosigkeit. Bestenfalls verklärt man die ländlichen Räume zur Heimatidylle mit unverbauter Landschaft, intakten dörflichen Gemeinschaften und hohem Erholungswert. In der Realität steht diesem einseitigen Bild eine sehr große Vielfalt ländlicher Räume gegenüber: So herrschen in einigen ländlichen Räumen tatsächlich wirtschaftliche Stagnation und Abwanderungstendenzen vor. Daneben gibt es aber auch prosperierende ländliche Räume, etwa in Tourismusregionen; vielfach ist sogar ein Trend zur „Wiederentdeckung des Landes“ zu beobachten. Durch den gesamtwirtschaftlichen Strukturwandel stehen ländliche Räume unter erheblichem Anpassungsdruck, der in Ostdeutschland durch die Folgen der Wiedervereinigung noch verstärkt wurde. Die Nutzung peripherer ländlicher Räume ist dadurch vor erhebliche Herausforderungen gestellt; gleichzeitig entstehen neue Experimentierfelder für Innovationen in der Landnutzung.

Die 2004 eingerichtete Arbeitsgruppe „Zukunftsorientierte Nutzung ländlicher Räume“ hat zum Ziel, eine grundsätzliche Vision für die zukünftige Nutzung ländlicher Räume, insbesondere in der Region Berlin-Brandenburg, zu entwickeln. Die zentrale Forschungsfrage lautet: Welchen Veränderungen sind die ökologischen und sozioökonomischen Systeme in ländlichen Räumen unterworfen und welchen Beitrag können technologische und soziale Innovationen zu einer dauerhaft-umweltgerechten Entwicklung ländlicher Räume leisten?

Die interdisziplinäre Arbeitsgruppe verfolgt drei übergreifende wissenschaftliche sowie wissenschafts- und gesellschaftspolitische Teilziele:
 

  • Wissenschaftlich sollen Wissenslücken zu Fragen einer zukunftsorientierten Nutzung des ländlichen Raumes aufgezeigt sowie geeignete interdisziplinäre Untersuchungsansätze und Forschungsmethoden entwickelt werden

  •  Wissenschaftspolitisch soll die Arbeitsgruppe Impulse für Entwicklungsperspektiven der raumbezogenen Wissenschaften, die sich aktuell in einer starken Umstrukturierungsphase befinden, geben

  • Gesellschaftspolitisch sollen aus den Resultaten Anregungen entwickelt werden, wie die "Stimme der Wissenschaft" in Sachfragen mit politischem Handlungsbedarf artikuliert und den entsprechenden gesellschaftlichen Kreisen kommuniziert werden kann

 

Als Schwerpunkte für die Arbeit wurden fachliche Aspekte mit einer übergeordneten Signalwirkung für den ländlichen Raum ausgewählt. Schließlich wurden daraus sechs thematische Cluster gebildet, in die sich die Arbeitsgruppe gliedert. Im Einzelnen sind dies:

 

  • Landschaftsentwicklung und Naturraumpotentiale
  • Pflanzen mit neuartigen Eigenschaften
  • Nachwachsende Rohstoffe und Energieversorgung im ländlichen Raum
  • Tierproduktion und Tierhaltung
  • Handlungsspielräume und Gestaltungsoptionen für periphere ländliche Räume
  • Grundsatzfragen und Strategien mit Blick auf eine Forschung für zukunftsorientiertes Handeln sowie entscheidungsstützende Systeme für Akteure und die Politikberatung

 

Landschaftsentwicklung und Naturraumpotentiale

Sprecher: Herbert Sukopp, Hubert Wiggering

Eine Voraussetzung für die Bewertung zukunftsorientierter Landnutzungsweisen ist die Kenntnis der biotischen und abiotischen Ressourcen sowie der historischen Entwicklung einer Landschaft. Im Cluster "Landschaftsentwicklung und Naturraumpotentiale" sollen insbesondere Grundlagendaten über Vegetation, Klima, Böden, Fauna, Flora, Biodiversität und Landnutzung (einschließlich Infrastruktur) zusammengetragen werden. Dabei spielen auch Klimaveränderungen und ihre Auswirkungen auf die natürlichen Ressourcen und die Landnutzung eine wichtige Rolle.

 

Pflanzen mit neuartigen Eigenschaften

Sprecher/-innen: Alfred Pühler, Inge Broer

Ein aktueller, kontrovers diskutierter Aspekt der Landnutzung ist die grüne Gentechnik, die in dem Cluster "Pflanzenproduktion mit Hilfe der grünen Gentechnik" untersucht werden soll. Dabei soll der mögliche Beitrag gentechnisch veränderter Pflanzen zu einer nachhaltigen Landnutzung in Abhängigkeit von verschiedenen transgenen Eigenschaften und Kulturpflanzen evaluiert werden. Die Potentiale folgender Möglichkeiten der Gentechnik für eine nachhaltige Landwirtschaft werden analysiert und die für die Region relevanten Optionen detailliert analysiert:

  • Veränderung der Inhaltsstoffe von Kulturpflanzen zur kostengünstigeren Nutzung und zur Erzeugung eines verbesserten Energie- oder Nährwerts

  • Erleichterung der Saatgutproduktion

  • Verbesserung des Nährwerts von Futtermitteln

  • Verbesserung der Nutzungsmöglichkeiten nachwachsender Rohstoffe

  • Einsatz genveränderter Organismen für den technischen Umweltschutz (z.B. Detektion von Kontaminationen)

 

Die vorgesehenen Methoden umfassen das Sammeln von Informationen über Angebot und Nachfrage nach genveränderten Pflanzen, biologische Sicherheit, behördliche Auflagen und Kosten. Daraus sollen kulturarten- und standortspezifische Szenarien für einen Einsatz der Pflanzen in unterschiedlichen Anteilen entworfen und im Vergleich mit herkömmlicher Produktion bewertet werden. Schließlich wird ein interdisziplinäres Papier zum Einsatz der grünen Gentechnik bei unterschiedlichen Standorten, Betriebsgrößen und sozialen Strukturen im norddeutschen Tiefland erstellt.

 

Nachwachsende Rohstoffe und Energieversorgung im ländlichen Raum

Sprecher: Reinhard F. Hüttl, Oliver Bens

Der Anbau von Biomasse zur Energieerzeugung stellt insbesondere auf Standorten mit geringem Ertragspotential eine Alternative zur Nahrungsmittelproduktion dar. Vor allem bei Kombination von holz- und halmgutartigen Pflanzen in neuartigen Agroforstwirtschaftssystemen können die standörtlichen Potentiale optimal genutzt werden. Vorteile der Biomassenutzung sind eine reduzierte Umweltbelastung, eine Verbesserung der Lebens-, Arbeits- und Einkommensverhältnisse sowie die Erhaltung der Kulturlandschaft und der ländlichen Infrastruktur. In diesem Cluster sollen Aussagen über die Rolle der Biomassenutzung in einem dauerhaft-umweltgerechten, zukunftsorientierten Landnutzungskonzept getroffen werden. Dazu sollen aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse aufbereitet, eigene Untersuchungen durchgeführt und Empfehlungen für die politische Umsetzung erarbeitet werden. Insbesondere sollen die folgenden Teilaspekte bearbeitet werden:

 

  • Erhebung des Stands des Wissens über Biomassenutzung und ländliche Energieerzeugung
  • Abschätzung der im nordostdeutschen Tiefland vorhandenen Potentiale der Biomasseerzeugung
  • Vergleich der ökologischen und wirtschaftlichen Auswirkungen unterschiedlicher Anbauverfahren von Energiepflanzen
  • Bewertung der sozialen und ökologischen Chancen und Risiken der Biomassenutzung durch Vertreter der Landwirtschaft, des Naturschutzes, der Industrie, der Wissenschaft und der Politik
  • Analyse von für die Biomassenutzung und Energieerzeugung relevanten politischen Programmen, Ableitung von Vorschlägen zu ihrer Optimierung und Entwicklung innovativer Instrumente

 

Tierhaltung und Tierproduktion

Sprecher: Reiner Brunsch

Das Cluster "Tierhaltung und Tierproduktion" beleuchtet Handlungsnotwendigkeiten und -optionen im Bereich der Tierhaltung. Dabei sollen Tierhaltungssysteme unterschiedlicher Nutzungsintensität in Bezug auf die genutzte Fläche und die genutzten Tiere betrachtet werden. Konventionelle wie neuartige Funktionen der Tierhaltung, etwa die Erzeugung von Nahrung, Rohstoffen und Zugkraft, stehen im Mittelpunkt. Auch wird der Frage nach möglichen Systemgrenzen der Tierhaltung durch Faktoren wie Beschäftigung, Energie, Landschaft und Klima nachgegangen. Besondere Bedeutung hat eine Betrachtung des Tierschutzes, der in den letzten Jahren eine besondere Bedeutung erlangt hat. Nicht selten stehen Tierschutzziele, aber auch Umwelt- oder Naturschutzziele, in Konflikt mit konventioneller oder moderner Landschaftsnutzung. Daneben soll der Beitrag der extensiven Beweidung zur Landschaftspflege und zum Naturschutz erörtert werden.

 

Handlungsspielräume und Gestaltungsoptionen für periphere ländliche Räume

Sprecherinnen: Eva Barlösius, Claudia Neu

Im Cluster "Handlungsspielräume und Gestaltungsoptionen für periphere ländliche Räume" sollen Perspektiven für den Umgang mit den sozioökonomischen Herausforderungen des Strukturwandels im ländlichen Raum eröffnet werden. Dazu werden Fragen nach dem Wandel von Kulturlandschaften durch Peripherisierungsprozesse, nach der Bildung neuer Experimentierfelder in sich entleerenden Räumen sowie nach Bereichen und Trägern von Innovationen und deren Bedeutung für die regionale Entwicklung gestellt. Vorgesehene Methoden sind demographische Analysen, Sozialstrukturanalysen, Diskursanalysen und Akteursanalysen, aus denen schließlich Prognosen und Szenarien abgeleitet werden sollen. Einen wichtigen Untersuchungsgegenstand bilden dabei die Mentalitäten bzw. kulturellen Orientierungen der Bewohner und die sich aus ihnen ergebenen Zukunftsofferten. Es sind Aussagen zu treffen, welchen Stellenwert der Ausgleich regionaler Disparitäten weiterhin besitzen sollte und wie Grundsicherungen und Grundstandards definiert werden können. Schließlich soll für ein Untersuchungsgebiet eine "Experimentierklausel" erarbeitet werden, mit der neue, dem ländlichen Raum besser angepasste Organisationsmodelle und Steuerungssysteme erprobt werden können.

 

Grundsatzfragen und Strategien

Sprecher/-innen: Carl Friedrich Gethmann, Gertrude Hirsch Hadorn

Das Cluster "Grundsatzfragen und Strategien" wendet sich den normativen Fragen in Bezug auf den ländlichen Raum zu. Normen werden dabei als generalisierte Aufforderungen, in denen Menschen ihre Ansprüche manifestieren, verstanden. Die mit ihnen verbundenen Geltungsansprüche hängen von Bedingungen ab, sind also hypothetisch. Sie können miteinander verglichen werden, was man umgangssprachlich als "Abwägungen" bezeichnet. Ein besonderer Typ normativer Probleme sind Gerechtigkeitsfragen. So soll in dem Cluster die Frage nach der Zulässigkeit des Gleichverteilungsprinzips bzw. einer gerechtfertigten Ungleichheit der Verteilung von Gütern untersucht werden. Eine weitere Grundfrage ist die Einbeziehung von Akteuren und damit die Definition von "Betroffenheit". Weiter sollen bestehende Moralüberzeugungen kritisch auf ihre Verallgemeinerbarkeit überprüft werden. Aus dieser Sichtweise zu bearbeitende ethische Probleme liegen im Bereich der Pflanzenzüchtung, des Tierschutzes, der Gentechnik an Tieren und Pflanzen sowie der Patentierung auf Biomaterialien. Besonders wird nach Zulässigkeit und Grenzen der Abwägungen von Chancen und Risiken neuer Technologien und nach der Langzeitverantwortung gefragt.

 

 

 

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