Die Fortführung des „Goedeke“ – Deutsches Schriftsteller-Lexikon 1830–1880
Einführung
Das „Deutsche Schriftsteller-Lexikon 1830–1880“, das seit 1995 im Akademie Verlag Berlin erscheint, ist ein alphabetisch angelegtes, aus den Quellen erarbeitetes bio-bibliographisches Handbuch zur deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts. Es ist die Fortführung von Karl Goedekes „Grundriss zur Geschichte der deutschen Dichtung“ und soll mit 13 Einzelbänden im Jahre 2015 abgeschlossen sein. Für die Wissenschaft ist das Werk schon jetzt mit dem Arsenal an Namen, Daten, Orten und Verlagen, an Gattungen und Begriffen unentbehrlich.
Das „Deutsche Schriftsteller-Lexikon 1830–1880“ ist im Rahmen der literaturgeschichtlichen Bibliographien und Lexika ein Quellenwerk zur literarischen und geistigen Kultur des 19. Jahrhunderts. Es erschließt das Dichten, Denken und Schreiben von Schriftstellern, die zwischen 1800 und 1850 geboren wurden und zwei Generationen angehören. Diese Autoren haben das literarische Leben vom Beginn der Frühindustrialisierung bis zum Entstehen des Sozialstaats in Deutschland getragen, begleitet oder mitbestimmt. Es ist die Blütezeit des aufstrebenden Bürgertums nach seiner Emanzipation in der Spätaufklärung, zugleich das Aufkommen des Arbeiterstandes mit seinen sozialen und wirtschaftlichen Problemen und Veränderungen. In diesen fünf Jahrzehnten durchdringt das erwachte politische Bewusstsein das Schaffen der Schriftsteller. In literarischer Hinsicht ist es nach dem Ausklingen des romantischen Biedermeier der Zeitabschnitt vom Jungen Deutschland und dem Vormärz bis zum Beginn und der Blütezeit des poetischen Realismus, aber auch der Goldschnittlyrik und der Unterhaltungsliteratur.
Der Goedeke
Von Walter Benjamin stammt der Satz: „Mit Bibliographie ist die Wissenschaft groß geworden“. Am Anfang der deutschen Literaturwissenschaft in der Mitte des 19. Jahrhunderts steht der Schriftsteller und Germanist Karl Goedeke (1814–1887), der mit seinem dreibändigen „Grundriss zur Geschichte der deutschen Dichtung“ (1859–81) den Grundstein einer umfassenden Bibliographie zur deutschen Literaturwissenschaft legte. Fünf Jahre vorher war der erste Band von Jacob und Wilhelm Grimms „Deutschem Wörterbuch“ erschienen. Beide Werke kennzeichnen die schnell aufblühenden Wissenschaft von der deutschen Sprache und Dichtung. Karl Goedeke, Schüler und Freund von Jacob Grimm, gab 1884–87 bis zu seinem Tode noch die ersten drei Bände seines Werkes in der zweiten Auflage heraus.
Aber es sollte wirklich hundert Jahre dauern, bis die 2. bzw. die 3. Auflage des Unternehmens zum Abschluss kam. Mit der einsetzenden intensiven Quellenerschließung und der sprunghaft anwachsenden Forschungsliteratur vermochten die Nachfolger und zahlreichen Bearbeiter des „Goedeke“ kaum Schritt zu halten. Allein den hervorragenden Koordinatoren, den Germanisten Edmund Götze (1843–1920), Franz Muncker (1855–1926), Alfred Rosenbaum (1861–1942) und schließlich Carl Diesch ist die Fortführung als ein privates Verlagsunternehmen des Ehlermann Verlags Dresden zu verdanken. Erst mit der Einrichtung einer Arbeitsstelle in der Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin im Jahre 1929 konnten die Voraussetzung geschaffen werden, dass das Werk nach dem letzten Krieg von Herbert Jacob (geb. 1924) als Mitarbeiter der Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin (DDR) fortgeführt und über Jahrzehnte unter schwierigen Bedingungen 1991 mit den Bänden 14-17 (5.000 Seiten!) vollendet werden konnte.
Die Bände 1-3, die die deutsche Literatur vom Mittelalter bis zum Barock erschließen, sind weitgehend überholt. Dagegen ist der 4. Band mit seinen fünf Teilbänden noch immer eine unerschöpfliche Quelle zur deutschen Literatur der Aufklärung und der Goethezeit. Die Bände 5-7 verzeichnen die Werke von Goethes Zeitgenossen, vor allem den Romantikern. Die Bände 8-17 aber erschließen allein die deutsche Literatur zwischen 1815 und 1830 mit der dazu gehörige Forschungsliteratur. Der erste Registerband (1998) erleichtert zwar den sicheren Zugang zu diesem bibliographischen Standardwerk. Doch erst die geplanten weiteren Registerbände werden die Fülle der im „alten Goedeke“ enthaltenen Informationen erschließen.
Das Konzept
Das „Deutsche Schriftsteller-Lexikon 1830–1880“ ist ein bio-bibliographisches Quellenwerk zur deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts, das sich in Anlage und Gestalt völlig von dem „alten“ Goedeke unterscheidet. Das Werk ist nach dem Alphabet der Autoren aufgebaut und ist eine Mischung von ausführlichen Hauptartikeln und den dazwischen eingefügten Kurzartikeln für die Autoren, denen kein Hauptartikel gewidmet wurde. Auf eine direkte Verzeichnung der Sekundärliteratur musste aus ökonomischen Erwägungen verzichtet werden. Der Begriff des Schriftstellers ist dagegen weiter gefasst als im „alten“ Goedeke. Philosophen und Gelehrte werden einbezogen, wenn sie durch ihre Publikationen auch zum literarischen Leben der Zeit beigetragen haben.
Die Hauptautoren werden dargestellt durch eine knappe, präzise aus den Quellen erarbeitete biographische Einführung und durch eine detaillierte bibliographische Aufarbeitung ihrer selbständigen und unselbständigen Veröffentlichungen. Es handelt sich also um die Dokumentation ihres literarischen Schaffens. Verzeichnet und beschrieben werden diejenigen Autoren, die zwischen 1830 und 1880 ihr erstes Buch veröffentlichten. Das bedeutet, dass viele bekannte Autoren des 19. Jahrhunderts bereits in dem „alten“ Goedeke, meist nach dem neuesten Stand der Forschung, bibliographisch beschrieben wurden wie Willibald Alexis, Christian Dietrich Grabbe, Heinrich Heine, August Heinrich Hoffmann von Fallersleben, Karl Immermann, Wolfgang Menzel, Julius Mosen, Friedrich Rückert, Ludwig Wienbarg. Auf der anderen Seite findet man in vorliegendem Werk Schriftsteller wie Michael Georg Conrad, Karl Emil Franzos, Ludwig Ganghofer, Paul Lindau, Fritz Mauthner u.a., die man als Autoren mit der Jahrhundertwende verbindet.
Die Zahl der verzeichneten Autoren ist bisher sehr groß und geht sehr weit über den Kanon, wie er sich aus der literaturwissenschaftlichen Forschung entwickelt hat, hinaus. Die Namen wurden schon vor Jahrzehnten festgelegt. Das sei einleitend an einem Beispiel erläutert.
Der Band H (785 Seiten) enthält 88 Hauptartikel, darunter Autoren wie Friedrich Wilhelm Hackländer, Ernst Haeckel, Ida Hahn-Hahn, Robert Hamerling, Julius Hammer, Heinrich Hansjakob, Eduard Hanslick, Eduard von Hartmann, Moritz Hartmann, Max Haushofer, Adolf Hausrath, Rudolf Haym, Friedrich Hebbel, Victor Hehn, Karl Heinzen, Robert Heller, Bernhard Anton Herrmann, Georg Herwegh, Wilhelm Hertz, Georg Hesekiel, Bernhard Heßlein, George Hiltl, Marie Hirsch, Nicolaus Hocker, Edmund Hoefer, Hans Hoffmann, Heinrich Hoffmann, Johann Jakob Honegger, Albert Hopf, Hans von Hopfen, Uffo Horn, Ignaz Hub. Außerdem werden 1536 Autoren in Kurzartikeln aufgelistet.
Die Datensammlung
Der Ausgangspunkt der Bearbeitung eines Autors des neuen Goedeke ist das Goedeke-Archiv, eine - in den 1960er Jahren - alphabetisch angelegte Sammlung von ca. einer Million Karteikarten in 575 Kästen. Es handelt sich dabei um die Auswertung der Bücherverzeichnisse des 19. Jahrhunderts mit den Nachweisen der Veröffentlichungen. Der zweite Komplex ist die Auswertung eines Kernbestandes von mehr als 250 literarischen und literaturkritischen Zeitschriften des Zeitraums 1830–1880 mit den Nachweisen der Beiträge in den Periodika und der Rezensionen ihrer Werke. Der dritte Komplex sind die Exzerpte aus Anthologien und Sammelwerken.
Aufbau der Hauptartikel
Nach den Grunddaten – Identifikationsnummer, Name des Autors mit seinen Pseudonymen und Lebensdaten – folgt eine Kurzbiographie. Der Lebenslauf des Autors wird auf Grund verlässlicher Quellen (ggf. in Zweifelsfällen durch Rückfragen bei Ämtern, Archiven etc.) in aller Kürze mit Herkunft, Ausbildung, beruflicher Tätigkeit, persönlichen Beziehungen, besonderen Ereignissen beschrieben. Auf Wertungen des Werks und Einordnung in den literaturgeschichtlichen Zusammenhang wird im Gegensatz zu den Literaturlexika verzichtet.
Verwiesen wird auf vorliegende Personalbibliographien, durch Siglen auf biographische Lexika, auf die Sekundärliteratur, auf Briefrepertorien und auf Handschriften- und Nachlassverzeichnisse in Bibliotheken, Sammlungen und Archiven, die zu weiteren Ermittlungen führen können.
Der Kern der Hauptartikel ist die chronologische Bibliographie der selbständig erschienenen Werke, „die Schaffensdokumentation jeder ausgeführten Autorendarstellung“ (Herbert Jacob). Auf Grund angestrebter Autopsie werden die Einzelwerke beschrieben; es folgen Vorabdrucke, spätere Auflagen, veränderte Ausgaben, Inhaltsangaben, bei Theaterstücken Aufführungsdaten. In einem eigenen Feld werden die ermittelten Rezensionen aufgelistet.
In der dann folgenden Rubrik werden die Beiträge und Abdrucke in Zeitschriften, Almanachen und Zeitungen verzeichnet. In einer Auswahl werden wichtige Artikel aufgeführt. Auch die Abdrucke in Anthologien, Lesebüchern und Sammelwerken werden nach den Quellen festgehalten. Am Schluss eines Artikels werden die Gesamtausgaben ausführlich beschrieben.
Aufbau der Kurzartikel
Die im Goedeke-Archiv gesammelten Materialien zu den unbedeutenden Autoren werden in Kurzartikeln verzeichnet. Jeder Eintrag enthält die Grunddaten: laufende Nummer, Name, Pseudonyme und Lebensdaten. Danach wird verwiesen auf fünf lexikalische Standardwerke, die man als Schlüsselwerke bezeichnen kann.
In einer dritten Zeile wird auf die im Goedeke-Archiv vorhandenen Nachweise zu dem Autor hingewiesen:
W = Anfangs- und Endjahr der selbständig erschienenen Werke
U = Anfangs- und Endjahr bisher festgestellter Beiträge und Abdrucke
L = Anzahl der zur Zeit der Bearbeitung im Archiv nachgewiesenen Sekundärliteratur zu dem Autor.
Die erschienenen Bände
Veröffentlicht wurden die folgenden Bände: Bd 1. A – B. 1995. – Bd 2,1. C – D. 1998. – Bd 2,2. E – F. 1998. – Bd 3,1. G. 2000. – Bd [3,2]. H. 2003. – Bd [4]. I – K. 2005. – Bd 5,1. L. 2009. – Bd 5,2. M – O. In Vorbereitung. – Bd 6. P – R. In Vorbereitung. – Bd 7. S – Sp. In Vorbereitung. – Bd [8,1]. St – V. 2007. – Bd 8,2. W – Z. 2012.
Die bisher erschienenen Bände enthalten 640 Hauptartikel und 9162 Kurzartikel..
Ausblick
Die einzigartige Fülle an Informationen, die in den Bänden des neuen Goedeke enthalten sind, wird erst sichtbar werden, wenn das „Deutsche Schriftsteller-Lexikon 1830–1880“ nicht nur nach seinem Abschluss ins Netz gestellt wird, sondern wenn in mehreren gedruckten Registerbänden das Werk inhaltlich erschlossen sein wird. Vorgesehen sind folgende automatisch zu erstellende Register: Alphabetisches Namenregister aller Schriftsteller der Haupt- und Kurzartikel mit Pseudonymen;
Chronologische Geburts- und Sterbedatenregister; Alphabetische Geburts- und Sterbeortsregister; Aufführungsregister; Alphabetisches Titelregister; Chronologisches Werkregister; Chronologisches Gattungsregister; Alphabetisches Register der Beiträge und Abdrucke; Rezensentenregister; Verlagsregister.
Das „Deutsche Schriftsteller-Lexikon 1830–1880“ lenkt mehr als bisher die Aufmerksamkeit der Germanistik auf ein weitgehend vernachlässigtes Forschungsgebiet, das sich nicht in der Erforschung der dichterischen Höhepunkte erschöpfen darf. Vielmehr muss sie dem breiten literarischen Leben des 19. Jahrhunderts mit all seinen gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Aspekten als Folge des durch die Industrialisierung hervorgerufenen Modernisierungsschubs gerecht werden.