Die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, die Fritz Thyssen Stiftung und das Wissenschaftskolleg zu Berlin haben vereinbart, in den nächsten fünf Jahren gemeinsam das Forschungsprogramm Europa im Nahen Osten – Der Nahe Osten in Europa durchzuführen.

 

Die Fritz Thyssen Stiftung stellt dafür Mittel von mehr als 2 Millionen Euro zur Verfügung.

 

Das Vorhaben knüpft an die Erfahrungen des Arbeitskreises Moderne und Islam (1996 bis 2006) am Wissenschaftskolleg zu Berlin an. An ihm sind Wissenschaftler der Berliner Universitäten, des Zentrums Moderner Orient, des Zentrums für Literaturforschung sowie Wissenschaftler aus anderen deutschen und europäischen Universitäten und dem Nahen Osten beteiligt.

 

 

1. Verflechtungen zwischen Europa und dem Nahen Osten

Die öffentliche Diskussion der Beziehungen Europas zu den arabischen Staaten des Nahen Ostens, zum Iran, der Türkei und zu anderen muslimisch geprägten Gesellschaften wird zunehmend von Bedrohungsszenarien, einem Denken in Gegensätzen und mangelnder Kenntnis der historischen und zeitgenössischen Kontexte geprägt. Dagegen setzt das Programm die Erforschung der politischen, religiösen, sozialen und kulturellen Verflechtungen zwischen Europa und dem Nahen Osten.

 

Damit sollen gemeinsame historische Vermächtnisse sowie die Mobilität von Personen und Ideen ins Blickfeld treten – das Gemeinsame und die Wechselwirkungen werden stärker betont als das Trennende. Der Schwerpunkt liegt auf der Kooperation mit Wissenschaftlern aus den Ländern des Nahen Ostens und der muslimischen Welt.

 

Das Motto des Forschungsprogramms hat der deutsche Kulturpolitiker und Orientalist C. H. Becker bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts formuliert: „So ist die islamische Welt mit der europäisch-amerikanischen durch tausend Fäden verbunden. Löst man die historischen Bande, so sind weder die islamische noch die europäische Welt (...) zu verstehen.“  („Islam im Rahmen einer allgemeinen Kulturgeschichte“, in: Islamstudien, Bd. 1, 1923).

 

 

2. Vier Forschungsfelder und ein Diskussionsforum zu Schlüsselbegriffen der Moderne

Das Forschungsprogramm integriert Projekte, deren Fragestellungen an Bruchlinien nationaler, religiöser oder kultureller Vorverständnisse ansetzen und unterschiedliche disziplinäre Perspektiven (Philologie, Literaturwissenschaft, Geschichte, Islamwissenschaft, Politologie) umfassen:

 

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Der Koran als Text einer gemeinsamen Antike und geteilten Geschichte

lokalisiert den Gründungstext des Islam im religiösen und kulturellen Kontext der Spätantike. Dabei werden die islamischen wie auch die christlichen und jüdischen Traditionen in den Blick genommen - ebenso wie die Rezeption des Korans im Nahen Osten und in Europa.

Leitung: Angelika Neuwirth und Stefan Wild

 

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Mobile Traditionen:

Vergleichende Perspektiven auf nahöstliche Literaturen unterzieht die literarischen Verflechtungen und Kanonisierungsprozesse zwischen Europa und dem Nahen Osten einer Neubewertung. Ausgehend von nahöstlichen Literaturen sollen Übersetzungsprozesse und Transformationen von Texten, Theorien, literarischen Genres und Ursprungsmythen problematisiert werden.

Leitung: Friederike Pannewick und Samah Selim

 

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Städtevergleich: Kosmopolitismus im Mittelmeerraum und den angrenzenden Regionen

leistet einen Beitrag zur Debatte über Kosmopolitismus und Zivilgesellschaft, wobei die Erfahrung des Zusammenlebens unterschiedlicher soziokultureller, ethnischer und religiöser Gruppen in den Städten am Mittelmeer im Zentrum steht.

Leitung: Ulrike Freitag und Nora Lafi

 

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Politisches Denken im modernen Islam: nahöstliche und europäische Perspektiven

analysiert das moderne politische Denken in islamischen Gesellschaften im Kontext von Theorien zu multiplen oder reflexiven Modernen. Leitung: Gudrun Krämer

 

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Forum: Tradition und die Kritik der Moderne. Säkularismus, Fundamentalismus und Religion aus nahöstlichen Perspektiven

problematisiert Querschnittsfragen der vier Forschungsfelder. Leitung: Amnon Raz-Krakotzkin

 

In diesen Forschungsfeldern und im Diskussionsforum arbeiten deutsche und europäische Nahostwissenschaftler mit Wissenschaftlern aus dem Nahen Osten zusammen, die eine Vielfalt von Disziplinen vertreten. Angestrebt wird die Mitarbeit von Vertretern auch nichtorientalistischer Disziplinen (Kirchengeschichte, Theologie, Literaturwissenschaft, Sozialgeschichte, Politische Philosophie u.a.).

 

 

3. Eine gemeinsame Agenda

Drei programmatische Konzepte verbinden die Teilprojekte:

 

1. Die Erforschung der gemeinsamen historischen Vermächtnisse (legacies) zwischen Europa und dem Nahen Osten – in ihrer Verwandtschaft wie in ihrer Differenz.

 

2. Die Dekonstruktion mythischer Ursprungserzählungen, die einzelne Kulturen prägen, und schließlich

 

3. Der Versuch einer begriffsgeschichtlich-vergleichenden Erforschung von Kernproblemen der Moderne in Europa und im Nahen Osten.

 

Die Kritik am 'disziplinären Nationalismus' vieler Disziplinen, die Betonung der Notwendigkeit des ‘Forschens mit’ Wissenschaftlern aus dem Nahen Osten und schließlich der Versuch, Brücken zwischen Wissenschaft, Kunst und Öffentlichkeit zu schlagen, sind weitere Leitmotive des Forschungsprogramms.

 

 

4. Instrumente

Im Zentrum des Vorhabens steht ein Postdoktorandenprogramm, das über die kommenden 5 Jahre 50 Nachwuchswissenschaftler aus dem Nahen Osten für jeweils ein Jahr an Berliner Forschungseinrichtungen führen wird. Arbeitsgespräche, ein Berliner Seminar sowie Sommerakademien

in Europa und dem Nahen Osten sollen die Fragestellungen innerhalb der einzelnen Forschungsfelder vertiefen, ihre Interdependenzen herausarbeiten und zur Internationalisierung des Vorhabens beitragen. Neue Formen der Einbeziehung der Künste (Literatur und Musik) sowie öffentliche Vortragsveranstaltungen sollen die Resonanz des Forschungsprogramms über die engere akademische Welt hinaus sichern.

 

In jedem Jahr lädt das Wissenschaftskolleg vier Fellows ein, die mit Personen und Projekten des Forschungsprogramms kooperieren.

 

Das Forschungsprogramm nimmt seinen Auftakt mit einer internationalen Sommerakademie zum Thema 'Travelling Traditions', die im Oktober 2006 in Beirut stattfinden wird. Der erste Jahrgang von jeweils zehn Stipendiaten soll Anfang Oktober 2006 in Berlin eintreffen.

 

 

5. Standort und Organisation

Mit seinen zahlreichen universitären und außeruniversitären Instituten der Forschung, Politikberatung und Lehre zum Nahen Osten und dem Islam sowie seinen gut ausgestatteten Bibliotheken, Archiven und Museen verfügt Berlin über eine einzigartige Dichte islamwissenschaftlicher Einrichtungen und bietet für das Projekt hervorragende Voraussetzungen. Das Forschungsprogramm hat ein Kollegium und einen Wissenschaftlichen Beirat.

 

 

5.1. Kollegium

Das Kollegium besteht aus:

 

- Prof. Dr. Ulrike Freitag (Zentrum Moderner Orient)

- Prof. Dr. Gudrun Krämer (Institut für Islamwissenschaft, Freie Universität Berlin)

- Dr. Nora Lafi (Zentrum Moderner Orient)

- Prof. Dr. Angelika Neuwirth (Seminar für Semitistik und Arabistik, Freie Universität Berlin)

- Prof. Dr. Friederike Pannewick (Department of Culture Studies and Oriental Languages, University of Oslo)

- Dr. Amnon Raz-Krakotzkin (Department of History, Ben-Gurion University, Beer Sheva)

- Dr. Samah Selim (Marseille, z.Zt. Wissenschaftskolleg zu Berlin)

- Prof. Dr. Stefan Wild (Orientalisches Seminar, Universität Bonn)

- Prof. Dr. Stefan Litwin (Berlin, Hochschule für Musik Saar).

 

 

5.2. Beirat

Dem Beirat, der das Forschungsprogramm wissenschaftlich begleiten wird, gehören zur Zeit folgende Personen an; er soll durch Wissenschaftler aus dem Nahen Osten erweitert werden.

 

- Prof. Dr. Yehuda Elkana (Central European University, Budapest; Permanent Fellow des Wissenschaftskollegs zu Berlin)

- Prof. Dr. Dr. h.c. Hartmut Kaelble (Institut für Geschichtswissenschaften – Sozialgeschichte, Humboldt-Universität zu Berlin)

- Dr. Navid Kermani (Köln)

- Prof. Dr. Christoph Markschies (Präsident, Humboldt Universität zu Berlin, Sekretar der Geisteswissenschaftlichen Klasse der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften)

- Prof. Dr. Thomas Risse (Politik- und Sozialwissenschaften, Freie Universität Berlin)

- Prof. Dr. Sigrid Weigel (Zentrum für Literaturforschung, Berlin)

 

 

6. Vorarbeiten

Das Forschungsprogramm baut auf forschungsstarken Bereichen an Berliner Universitäten und am Zentrum Moderner Orient auf. Es steht in einer Tradition verschiedener Projekte.

 

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Europe in the Middle East

1994 – 1998. Dieses gemeinsam vom Wissenschaftskolleg zu Berlin und dem Van Leer Jerusalem Institut getragene Projekt hat mit Unterstützung der VolkswagenStiftung vier Jahre lang israelische (jüdische und palästinensische) und deutsche Wissenschaftler in Jerusalem zusammengeführt, um gemeinsam über Konzepte der europäischen Aufklärung und deren Rezeption im Nahen Osten zu forschen.

 

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'Arbeitskreis Moderne und Islam'

(AKMI), 1996 – 2006. Der AKMI hat sich als interdisziplinärer Forschungsverbund des Landes Berlin von 1996 – 2006 um ein besseres Verständnis islamischer Kulturen, ihrer Geschichte und Sozialverhältnisse bemüht. Thematischer Ausgangspunkt der ersten Phase des AKMI von 1996 bis 2001, die vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), dem Land Berlin und der Hamburger Körber-Stiftung finanziert wurde, waren Fragestellungen der Moderne, die in einem um die Erfahrungen muslimisch geprägter Gesellschaften erweiterten Bezugsrahmen erforscht wurden.

 

- In einer zweiten Phase von 2001 – 2006 wurde im Rahmen von 5 Teilprojekten 1.) Jüdische und islamische Hermeneutik als Kulturkritik, 2.) 'Cultural Mobility' in nahöstlichen Literaturen, 3.) Sozialgeschichte von Handelsstädten im Osmanischen Reich, 4.) Museumsforum und 5.) dem Schriftstelleraustauchprogramm 'Westöstlicher Diwan' der Versuch unternommen, Forschungen zur muslimischen Welt stärker mit anderen Fächern in Zusammenhang zu bringen. In seiner zweiten Phase wurde der AKMI im wesentlichen vom BMBF, dem Land Berlin, der Fritz Thyssen Stiftung und der Bundeskulturstiftung und bei den Sommerakademien von der VolkswagenStiftung und dem schwedischen Riksbankens Jubileumsfond unterstützt.

 

In den 10 Jahren der Laufzeit des Projekts haben sich über 600 Wissenschaftler aus mehr als 40 Ländern am Arbeitskreis beteiligt. Internationale Workshops und Sommerakademien des Arbeitskreises, die seit 1996 ausgerichtet wurden, haben junge ebenso wie etabliertere Wissenschaftler aus Europa, den USA und muslimisch geprägten Ländern zusammengeführt. Themen waren u. a. 'Prozesse und Gegenprozesse der Modernisierung', 'Krise und Gedächtnis', 'Konzepte von Recht und Ordnung', 'Geschichte und Geschichtsschreibung', 'Die Lokale Produktion von Wissen', 'Hermeneutik von Grenzen in Judentum, Islam und Christentum', 'Martyrdom in Modernity', 'Literatur und Grenzen' sowie die Beziehungsgeschichte von Handelsstädten im Mittelmeerraum. Sommerakademien und Workshops fanden in Berlin, Alexandria, Beirut, Casablanca, Istanbul und Florenz statt, in der Regel in Kooperation mit lokalen Forschungseinrichtungen. Neben den Fellows des Wissenschaftskollegs hat eine Vielzahl von namhaften nahöstlichen Intellektuellen, Schriftstellern und Wissenschaftlern an Seminaren und Sommerakademien des AKMI teilgenommen: Khaled Abou El Fadl, Mahmoud Ayyoub, Daniel Boyarin, Mahmoud Darwish, Farid Esack, Khaled Fahmy, Abdou Filali Ansary, Sayyed Mohammed Khatami, Roy Mottahedeh, Ussama Makdisi, Ebrahim Moussa, Tarif Khalidi, Caglar Keydar, Elias Khoury, Gideon Levy, Abdullahi an-Na'im, Farish Noor, Orhan Pamuk, Yoginder Sikand, Sarah Stroumssa, Fawaz Taraboulsi, Khalil Athamina, Mohammed Touzi oder Abdulkader Tayob.

 

 

7. Einladungsschwerpunkt am Wissenschaftskolleg

Seit Anfang der 1990er Jahre hat das Wissenschaftskolleg besonderen Wert auf die Einladung von Fellows aus der muslimisch geprägten Welt wie auch auf Einladungen von Islamwissenschaftlern gelegt. So waren alle drei Träger des international hoch angesehenen Erasmus-Preises im Jahr 2004 ehemalige Fellows des Wissenschaftskollegs: Sadik Al-Azm, Fatema Mernissi und Abdolkarim Sorousch.

Weiterhin weilten als Fellows am Wissenschaftskolleg Gelehrte und Schriftsteller wie Mona Abaza, Adonis, Gil Anidjar, Nasr Hamid Abu Zayd, Anouar Abdel-Malek, Mohammed Arkoun, Aziz Al-Azmeh, Abbas Beydoun, Abdelmajid Charfi, Rashid Daif, Beshara Doumani, Nilufer Göle, Abdellah Hammoudi, Scheherazade Hassan, Galit Hasan-Rokem, Huricihan Islamoglu, Salma Jayyusi, Amnon Raz-Krakotzkin, Mohammad Hashim Kamali, Ousmane Kane, Edward Kharrat, Serif Mardin, Ziba Mir-Hosseini, Chaikh Moussa, Tazeen Murshid, Rushdi Said, Mohammad Mojtahed Schabestari, Abdelahad Sebti, Abdul Sheriff, Reuven Snir, Javad Tabatabai, Norani Othman oder Khalid Ziadé.

Kontakt
Dr. Ute Tintemann
Leiterin Referat IAG
Referat Interdisziplinäre Arbeitsgruppen
Tel.: +49 (0)30 20370 633
tintemann@bbaw.de 
Jägerstraße 22/23
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