Das neuerwachte Interesse am Fremden ist als Forschungsthema ein Anzeichen für eine tiefe Verunsicherung: Ist in einer durch Globalisierung der Wirtschaft, Armutsmigration und Massentourismus gekennzeichneten Welt nicht das Fremde längst ins Eigene eingewandert, so wie umgekehrt das Eigene sich längst mit dem Fremden bis zur Ununterscheidbarkeit verbunden hat? Noch die Zunahme fremdenfeindlicher Anschläge verrät nicht zuletzt den verbissenen Wunsch, sich gewaltsam der fragwürdig gewordenen Grenzen zwischen Fremdem und Eigenem zu vergewissern. Das Fremde soll aus dem Gefüge des Eigenen gleichsam wieder herausgesprengt werden. Das Fremde ist nicht von vornherein fremd, sondern es wird fremd.
Von solchen Vorgängen der Entstehung von Fremdheit bei vorausgehender Zugehörigkeit und Vertrautheit handeln eine Reihe von Untersuchungen, die jetzt in dem abschließenden Forschungsbericht der interdisziplinären Arbeitsgruppe Die Herausforderung durch das Fremde an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften vorliegen. Drei Jahre lang, von 1994 bis 1997, sind sieben Mitglieder und acht Mitarbeiter der Akademie auf unterschiedlichen Forschungsfeldern, von der Soziologie und Politikwissenschaft über Romanistik und Germanistik bis zur Japanologie, dem Wechselverhältnis von Selbst- und Fremdwahrnehmungen nachgegangen. Ihren gemeinsamen Ausgangspunkt bildete die Beobachtung, daß das Fremde in seinen beiden Bedeutungsdimensionen der Nichtzugehörigkeit und der Unvertrautheit gleichzeitig mit der Selbstverständigung sozialer Gruppen oder ganzer Gesellschaften über sich und ihre Identität erst Gestalt annimmt. Eine zentrale Rolle spielt dabei immer wieder die Bezugnahme auf Vergangenes, die zur retrospektiven Versicherung wird, daß schon immer fremd war, was jetzt erst fremd wird.
So haben die europäischen Nationendiskurse der frühen Neuzeit eine Fremdheit im Raum erzeugt, indem sie die Vergangenheit umdeuteten in eine Geschichte der Unverträglichkeit oder Unterlegenheit eines nunmehr als fremd gekennzeichneten Anderen. Der Rückgang in die Zeit diente der Beglaubigung von Unterscheidungen, die den Zeitgenossen nicht ohne weiteres einleuchteten, ihnen aber zur zweiten Natur werden mußten, wenn die nationale Selbstfindung gelingen sollte. Herfried Münkler und Kathrin Mayer haben einen solchen Vorgang am Beispiel der Humanisten im frühneuzeitlichen Italien untersucht, als infolge der Wiederentdeckung bzw. Neubewertung der ethnographisch-historiographischen Literatur der Antike die christliche Einheit Europas mit neuen Distanzerklärungen durchsetzt wurde. An seinem vorläufigen Ende stand eine affektiv aufgeladene Grenzziehung, in der sich die späteren Trennlinien der Kriege des 18. bis 20. Jhdts. schon abzeichneten.
Umdeutungen und regelrechte Erfindungen von Traditionen begleiteten auch die Durchsetzung des Französischen als nationale Sprache. Ihre Kehrseite war die Entstehung einer inneren Fremdheit: Nicht nur Latein, die alte Sprache der Eliten, auch die meisten lokalen Sprachen auf französischem Territorium unterlagen einer inneren Ausgrenzung, indem sie mit dem Siegel der Fremdheit oder der Minderwertigkeit versehen wurden. Wie Jürgen Trabant und Dirk Naguschewski gezeigt haben, wiederholen sich viele dieser Schwierigkeiten beim Versuch, das Französische auch im frankophonen Afrika als verbindende und verbindliche Sprache zumindest in den "höheren" Funktionsbereichen zu verankern. In Afrika aber werden sie zusätzlich verschärft durch die koloniale Vergangenheit, die für eine Abwehr des "Fremdkörpers" Französisch zu sprechen scheint. Was aber wäre in den vielsprachigen Ländern des frankophonen Afrika die eigene Sprache, da doch jede Festlegung auf eine oder einige von ihnen alle anderen wiederum ausschließen oder mit einem niedrigeren Status versehen würde?
Vor allem in den jüngeren, nachkolonialen Nationen geht von Prozessen der Ethnisierung eine erhebliche Bedrohung für die behauptete Einheit von Staat und Nation oder auch nur den Zusammenhalt des Staates aus. In Nordghana, mit dem sich der Bericht von Artur Bogner befaßt, ist es nicht zuletzt der Streit um Besitz und Nutzung von Grund und Boden, der die Bildung ethnischer Gruppen begleitet und kriegerische Konflikte munitioniert. Der Streit erweist sich als Medium der Entstehung von einander ausschließenden Wir-Gruppen. Die durchaus neuartige Formierung ethnopolitischer Organisationen, die ihre Sprecher aus den Kreisen einer städtischen Intelligenz rekrutieren, erfolgt dabei im Namen herkömmlicher und daher vorgeblich selbstverständlicher Kriterien der Zugehörigkeit.
In dem von Horst Stenger bearbeiteten Projekt "Fremde Wissenschaft" kommt die historische Dimension von Fremdheit in Gestalt der DDR-Vergangenheit ins Spiel. Der westdeutsch dominierte Wissenschaftsbetrieb weist den DDR-Wissenschaftlern die Position der Spätgekommenen zu, die sich den Regeln der neu nach Ostdeutschland gekommenen "Alteingesessenen" des westdeutschen Wissenschaftsbetriebs anzupassen haben. Wie Stenger zeigt, erwächst Fremdheit hier gerade aus einer enttäuschten Erwartung gleichberechtigter Zugehörigkeit. Das mit der Vereinigung verbundene Versprechen, Deutsche unter Deutschen zu sein, bricht sich an der Erfahrung von Asymmetrien. Eben weil sie von ihrer Zugehörigkeit ausgegangen waren, erfahren sich viele Ostdeutsche nun als Fremde. Stengers umfangreiche, auf quantitativen Erhebungen und Interviews beruhende Untersuchung dokumentiert einen Aspekt innerer Fremdheit und bestätigt für einen ausgewählten Bereich den verbreiteten Verdacht einer nach wie vor großen Distanz zwischen Ost- und Westdeutschen.
Formelhaft verdichtet findet sich die Erfahrung innerer Fremdheit in der Rede vom "Fremdling im eigenen Land". Spätestens seit der Romantik spielt sie eine wichtige Rolle in der Selbstbeschreibung von Intellektuellen. Diese sahen sich, zumal in Deutschland, für lange Zeit von den maßgeblichen wirtschaftlichen und politischen Einflußmöglichkeiten ausgeschlossen und als Haus- oder Hofmeister weit unter ihrer Würde gesellschaftlich eingebunden. Sie gehörten nicht dazu, obwohl ihnen nichts anderes übrig blieb als dazuzugehören. Conrad Wiedemann und Robert Charlier haben motivgeschichtlich nachgezeichnet, wie diese Erfahrung sozialer Randständigkeit einen oftmals polemischen und nach radikaler Erlösung verlangenden Ausdruck gefunden hat.
Wie schon diese wenigen Beispiele zeigen, erwächst Fremdheit häufig aus Unterscheidungen, die jedoch nicht als solche, sondern als Aus- und Abgrenzungen gedeutet werden. Immer führt dabei die Frage nach dem Fremden zurück auf die normierende Idee einer Ordnung im Eigenen. Je einheitlicher und geschlossener sich dieses darstellen soll, um so mehr bedarf es des Fremden als seines Gegenbildes - und um so weniger verträgt es dessen Auftauchen im Eigenen. Diese Schwierigkeit ist nicht neu: Bereits im Mittelalter warfen die an den Rändern der Welt vermuteten monströsen Wesen das Problem auf, die Existenz des augenscheinlich Bösen und Häßlichen mit der Güte Gottes in Einklang zu bringen. Mit dieser Schwierigkeit, das Fremde in (die) Ordnung zu bringen, haben sich, wie Werner Röcke und Marina Münkler zeigen können, Theologen und scholastische Philosophen intensiv beschäftigt.
Die Auflösung erfolgte nicht auf dem Pfad der Deduktion, sondern auf praktischem Wege: Mit der Erschließung der Welt durch Eroberung, Handel und Tourismus ist der Glaube an Monstra und Mischwesen geschwunden. Dadurch allerdings ist das Fremde nicht einfach verschwunden; vielmehr hat es sich vervielfältigt. An die Stelle des Ganz Anderen ist eine Pluralität von Anlässen für die Vermutung getreten, die Dinge könnten auch anders sein, als sie sich uns darstellen. Die Allgegenwart des Fremden führt uns die Kontingenz unserer Gewißheiten und Erwartungen vor Augen. Doch handelt es sich, wie Kai-Uwe Hellmann auf systemtheoretischer Grundlage argumentiert, nicht länger um das schlechthin Unvertraute, sondern um ein Unvertrautes, mit dem wir auf einer höheren Stufe wiederum vertraut sind: Wir haben ständig mit Fremdem zu rechnen, obgleich wir mit ihm nicht rechnen können, weil das Fremde die Anschlußfähigkeit unserer Operationen immer wieder in Frage stellt. Darin liegt die Gefahr der Überforderung, aber auch die Möglichkeit des Lernens.
Für letztere scheint geradezu exemplarisch Japan zu stehen, das nach jahrhundertelanger Abschottung und schließlich erzwungener Öffnung einem rasanten Wandel ausgesetzt war. Am Beispiel von experimenteller Literatur aus den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts verdeutlichen Irmela Hijiya-Kirschnereit und Richmod Bollinger, wie sich 'äußere' Einflüsse für eine Verschiebung des kulturellen Selbstverständnisses der Japaner benutzen ließen, ohne den Eindruck eines radikalen Bruchs mit dem Hergebrachten hervorzurufen. Zu diesem Zweck mußte die Fähigkeit zur Aufnahme von Neuem und Ungewohntem als konstantes Merkmal der japanischen Tradition ausgegeben werden.
Auch diese Form der Verarbeitung des Fremden lebt jedoch von der Suggestion eines ungebrochenen Bezuges zur eigenen Ordnung. Auch sie läßt sich daher noch aus der Warte einer radikalen Differenztheorie einer Furcht vor dem Fremden bezichtigen. Iris Därmann hat demgegenüber in der Auseinandersetzung mit der phänomenologischen Philosophie für ein Denken des Fremden plädiert, das jeglichem Verfügungs- und Vereinheitlichungsanspruch zu widerstehen vermag. Das Fremde in diesem Sinne ist das schlechthin Außerordentliche, das in die Ordnung einbricht, ohne auf die Möglichkeit einer Gegenordnung zu verweisen. Es ist der Stachel im Fleisch einer jeden Normalisierung.
Diese radikale Deutung des Fremden steht am Ende einer Entwicklung, in deren Verlauf das Fremde mehr und mehr von der Außenseite und den Rändern der jeweiligen Ordnung in deren Inneres eingewandert ist oder als bloße Kehrseite ihres Selbstbezuges erkennbar wurde. Die Projekte der Arbeitsgruppe dokumentieren die vielfältigen Schwierigkeiten, die mit diesem Ende der Eindeutigkeit verbunden waren und sind. Sie veranschaulichen sehr unterschiedliche Wege, das Fremde zugleich hervorzurufen und zu bannen; es zu fliehen und sich seiner zu bemächtigen. Sie konstatieren die Aneignung des Fremden und das Fremdwerden des Eigenen.
(Herfried Münkler, Pressenotiz zur Pressekonferenz der Arbeitsgruppe am 10. Februar 1998)
Zum fremdheitstheoretischen Ertrag
Die Arbeitsgruppe Die Herausforderung durch das Fremde hatte sich konstituiert, um in grundlagentheoretischer Absicht eine Phänomenologie und Strukturanalyse von Fremdheit zu erarbeiten. Mit Vorlage des Abschlußberichts müssen wir feststellen, daß wir zwar Begrifflichkeit und Differenzierungen für eine solche Grundlagentheorie der Fremdheit entworfen und an disziplinär heterogenem Material getestet haben, daß aber das ursprünglich ins Auge gefaßte Ziel nicht erreicht worden ist. Ob dies eher an der Heterogenität des Materials, der Insuffizienz der angewandten Begrifflichkeit oder an der Größe des Problems gelegen hat, mag dahingestellt bleiben. Dennoch glauben wir, im Hinblick auf eine xenologische Grundlagentheorie als Ertrag der Einzelprojekte einige Überlegungen festhalten zu können:
Im Verlaufe der zwischen den Teilprojekten geführten Diskussionen haben wir uns von der ursprünglichen Annahme einer klaren und eindeutigen Kontrastierbarkeit des Eigenen und des Fremden weit entfernt. Der erste Schritt hierbei war die grundbegriffliche Unterscheidung zwischen einer kognitiv-kulturellen und einer sozialen Dimension von Fremdheit, die wir als Unvertrautheit bzw. Nichtzugehörigkeit bezeichnet haben. Bemerkenswerterweise ist diese Unterscheidung in den meisten bisherigen Arbeiten zu Fremdheit nicht vorgenommen oder doch in ihren Implikationen und Konsequenzen nicht ausgelotet worden. Statt dessen wurde, wie dies auch in unserem Projekt zunächst der Fall war, die Polysemie des Lexems 'fremd' eher unausdrücklich zum Ausgangspunkt gemacht, wodurch zwar Probleme der gesellschaftlichen Integration wie des kulturellen Verstehens gleichermaßen thematisch wurden, die komplexen Verknüpfungen und Wechselbeziehungen zwischen beiden Problemkreisen aber eher ausgeblendet blieben. Das ist um so erstaunlicher und problematischer, als die Entkoppelung von Zugehörigkeit und Vertrautheit zu den grundlegenden Funktionserfordernissen moderner Gesellschaften gehört. Kulturelle Pluralisierung und funktionale Differenzierung, wie sie für moderne Gesellschaften kennzeichnend sind, lassen wenig übrig von der Vorstellung einer vollständigen Inklusion aller Gesellschaftsangehörigen qua umfassender Vertrautheit mit allen Bereichen des sozialen Lebens. Was in früheren Zeiten auf gesellschaftliche Nischen und Statuslücken beschränkt blieb, ist in der Moderne zum allgemeinen Los geworden: die funktionale Integration von Personen als einander Fremde in das Gesellschaftssystem. Genau auf diesen anonymisierenden und distanzwahrenden Typ der Integration und Vernetzung moderner Gesellschaften sind die Steuerungsmedien Macht, Recht und Geld mit ihrer (kulturkritisch häufig beklagten) Abstraktionsleistung eingestellt. Unter der Bedingung gesellschaftlicher Integration qua Macht, Recht und Geld wird Fremdheit als innergesellschaftlicher Dauerzustand nicht nur tolerierbar, sondern auch funktional und produktiv: Sie entlastet von der Aneignung von Praxen und Kenntnissen und ermöglicht Distanzen, die eine Grundlage individueller Autonomie darstellen. In diesem Sinne ist Fremdheit in modernen Gesellschaften eine Entlastungs- und Freiheitsressource - mit allen Folgen, die dies für die Art der gesellschaftlichen Integration hat.
Die Unterscheidung zwischen Nichtzugehörigkeit und Unvertrautheit als den beiden Dimensionen des Fremden (sowie die auf das Eigene bezogene Parallelbegrifflichkeit) legt in einem zweiten Schritt nahe, die Vorstellung einer strikten Separierbarkeit des Eigenen und des Fremden für moderne Gesellschaften aufzugeben und Grenz- und Übergangsbereiche sowie Zonen der Liminalität genauer ins Auge zu fassen. Trifft unsere Ausgangsüberlegung zu, so sind diese Übergangsbereiche, die in früheren Gesellschaften an deren Rand lagen und von einzelnen sozialen Figuren wie dem Gast und dem Händler bevölkert wurden, in die Zentren der Gesellschaft eingewandert, und nicht Außenseiter sind in ihnen anzutreffen, sondern, wenn auch nur gelegentlich, jeder von uns. Der Bedeutungsverlust räumlicher Trennungslinien für die Beschreibung gesellschaftlicher Strukturen hat darin eine seiner Ursachen.
Auf der Unterscheidung zwischen Nichtzugehörigkeit und Unvertrautheit beruht schließlich auch unsere dritte Leitvorstellung, der zufolge Fremdheit gradualisierbar ist. Es gibt in jeder Dimension verschiedene 'Fremdheiten', abgestufte Zugehörigkeit ebenso wie Stufen des Verstehens. Von definitiver Fremdheit in der kognitiv-kulturellen Bedeutungsdimension sprechen wir, wenn die Erfahrung von Unvertrautheit mit der Zuschreibung einer unüberwindlichen Unverstehbarkeit einhergeht. In der sozialen Bedeutungsdimension liegt definitive Fremdheit vor, wenn die Nichtzugehörigkeit von keiner umfassenderen Zugehörigkeit 'gerahmt' wird. Definitiv Fremde in diesem Sinne sind selten, wenn nicht unmöglich geworden, während sich die Fremden in einem sektoral begrenzten Sinn unendlich vermehrt haben.
(aus: Arbeitsgruppe: Die Herausforderung durch das Fremde, in: Jahrbuch der BBAW 1997, Berlin: Akademie Verlag, 1998)