1) Verbesserter Zugriff auf auch in gedruckten Ausgaben vorhandene Informationen
Digitale Textsammlungen machen Texte bereits jetzt leichter durchsuchbar. Einige Textelemente sind noch nicht oder nicht ausreichend erschlossen, v.a. griechische Worte (Cicero, Celsus, Martianus Capella). Ebenso wichtig ist der Zugriff auf den Apparat, v.a. wenn Varianten vorhanden sind, die sprachhistorisch wichtig sind. Dabei denke ich nicht nur an innerlateinische Phänomene (poto als Variante von puto), sondern auch an das Weiterleben von Wörtern, die zuerst im Lateinischen als Varianten auftreten (volvox als nicht authentische Lesart in Plinius, Naturalis historia, und volvoce im Ital.). Derartiges ist bis jetzt nur mit großem Aufwand faßbar, da in der Regel für die Textgestaltung irrelevant und daher auch in Indizes nicht enthalten.
2) Multidimensionale und dynamische Darstellung von Texten und Textfamilien
Die Editionstechnik der klassischen Philologie hat sich darauf konzentriert, das früheste Stadium eines Textes wiederzugeben, auch, weil das Buch als Medium eine statische Präsentation des Textes favorisiert. Die 'Illusion' der 'besten' Textfassung wird von den heutigen digitalen Textcorpora oft noch verstärkt, da sie Elemente weglassen, die den Text begründen oder in Frage stellen (kritischer Apparat).
2a) Die dynamische Kombination verschiedener Versionen desselben Texts ist v.a. dann interessant, wenn in der Antike bereits verschiedene Fassungen kursierten (Vergil), oder Texte längere Zeit in einer vom 'Original' abweichenden Form rezipiert wurden (Martianus Capella, große Unterschiede selbst in den modernen Editionen). Eine mehrdimensionale digitale Präsentation könnte hier eine Mehrzahl von Textschichten visualisieren und dem Leser die Entscheidung für eine bestimmte unter gleichwertigen Lesarten überlassen. Multidimensionale interagierende Textglomerate (Vetus latina-Versionen der Bibel) können auf dem Papier ohnehin kaum befriedigend dargestellt werden.
2b) Ausgaben klassischer Texte sind in der Regel sowohl orthographisch normiert als auch modern interpungiert (Einfluß der nationalsprachlichen Gewohnheiten des Editors oder Verlegers – u/v!). Die vom Editor durch die Interpunktion vorgeschlagene Mikrogliederung des Textes fixiert eine bestimmte Interpretation, die der syntaktischen Offenheit mancher lateinischer Konstruktionen nicht gerecht werden kann. Digital sind alternative Ansichten desselben Texts (mit/ohne Interpunktion, Groß-/Kleinschreibung) ohne weiteres kombinierbar, sodaß der Leser die Möglichkeit hat, den Text in verschiedenen Stadien (bis hin zur Trennung der Buchstabenabfolge in Worte) zu visualisieren, und zugleich die Ergebnisse der editorischen Arbeit zur Verfügung hat.
3) Erweiterte syntaktischen und lexikalischen Informationen
Der Editor wird als 'Superuser' seinen Text in der Regel lexikalisch und syntaktisch verstehen; dies entgeht anderen Usern, soweit es nicht in den Text oder allfällige Indizes eingeht. In einer digitalen Edition können z.B. syntaktische Mikrostrukturen durch syntaktisches tagging markiert werden, das wesentlich präziser als selbst die raffinierteste Kommatierung sein kann. Der User erhält damit z.B. Informationen zu syntaktischen Phänomenen, die lexikalisch unauffällig sind und daher auch in digitalen Corpora durch die Suche von einzelnen Wörtern nicht faßbar sind (z.B. 'et' in der 'Parahypotaxe'). In einem zweiten Schritt können im Rahmen von selbstlernenden Systemen ausreichend definierte strukturelle Elemente zur Analyse neuer Texte verwendet werden.
Dr. Johann Ramminger
Thesaurus Linguae Latinae, Bayerische Akademie der Wissenschaften
A. Goppel-Str. 11, ehem. Marstallplatz 8, D-80539 München
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