Der heutige Leibniz-Saal der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften im 1901–1903 errichteten Gebäude am Gendarmenmarkt war vormals Kassensaal der Preußischen Seehandlungsgesellschaft, ab 1918 der Preußischen Staatsbank. Hier empfing die Bank ihre Kunden, die an hölzernen Schaltern die Ein- und Auszahlungen tätigen konnten. In den letzten Tagen des Zweiten Weltkrieges wurde das zum größten Teil von Bomben verschonte Hauptgebäude umkämpft und von der Roten Armee eingenommen. Die historischen Sandsteinpfeiler tragen bis heute die Spuren der Maschinengewehre.
1949 wurde das Gebäude von der Sowjetischen Militäradministration geräumt und der damals Deutschen Akademie der Wissenschaften als Hauptsitz zugewiesen. Zu Zeiten der DDR wurde in den Raum ein Sitzungssaal eingebaut, die ursprüngliche pompöse Halle war nicht mehr zu erkennen. Erst 1999 wurde der historische Saal erneut freigelegt, saniert und modernisiert. Der Zugang zum Leibniz-Saal ist von zwei Seiten her möglich und gleichsam begrenzt: zur einen Seite durch einen Anbau aus der NS-Zeit, der heute die Büros der Akademie beherbergt, und zur anderen Seite durch den ehemaligen Haupteingang der Seehandlung über einen mit Swastika-Muster gekachelten Boden, der bereits zu Beginn des Jahrhunderts verlegt wurde.
Ausgehend vom Leibniz-Saal sowie den angrenzenden Räumen und Gebäuden entwickelt Anna Schapiro eine dreiteilige Arbeit mit dem Titel „Offene Geheimnisse“. Ihre Arbeitsweise ist geprägt von einem Misstrauen gegenüber repräsentativen Orten. Ihren Arbeiten geht stets ein Hören und Abtasten der Ausstellungsräume und -orte voran. Historische Überlagerungen, das Wirken von Vergangenheit in die Gegenwart, entfalten sich durch ihr Werk auf neue Weise. Die verschiedenen Nutzungen und historischen Zustände des Raumes in den Blick nehmend, überlagert Anna Schapiro diese mit weiteren Schichten. Schapiro trägt sie in einem ersten Teil der Ausstellung als Druck direkt auf den Boden auf, ergänzt um eine tickende Uhr und einen Stemmhammer. Ihre Arbeit nimmt Bezug auf die Frage, die dieser Raum stellt: Wie umgehen mit dem im Gebäude eingeschriebenen Erbe aus Kolonialismus und Nationalsozialismus? Schapiro reicht mit ihrer Arbeit diese Frage zurück an die sie einladenden Institutionen. Die voranschreitende Zeit und die gleichzeitige Existenz anderer Zeiten und Gegenwarten, die sie im Raum aufweist, sind Aufforderungen zu sprechen und zu handeln, die eigene Position zu überprüfen.
In einem zweiten Teil der Ausstellung anlässlich des 40-jährigen Jubiläums der Stiftung Preußische Seehandlung wird ab dem 21. September 2023 das vom Druck gefärbte Papier als mehrteiliges Bild auf die an den Leibniz-Saal angrenzenden Wände übertragen und ist dort bis 2024 zu sehen.
Gefördert wird die Ausstellung von der Stiftung Preußische Seehandlung
PROGRAMM
27. Juli 2023 | 19 Uhr | Eröffnung des ersten Ausstellungsteils | Grußwort von Akademiepräsident Christoph Markschies Mit Beiträgen von Anna Schapiro, Künstlerin, und Horst Bredekamp, Kunsthistoriker und Akademiemitglied. |
3. August 2023 | 18 Uhr | Werkbetrachtung I | Mit Anna Schapiro und Gabriele Knapstein, stellv. Direktorin und Sammlungsleiterin Hamburger Bahnhof |
14. August 2023 | 18 Uhr | Werkbetrachtung II | Mit Anna Schapiro und Andreas Prinzing, Kurator und Autor |
21. August 2023 | 18 Uhr | Werkbetrachtung III | Mit Anna Schapiro und Bettina Klein, Freie Kuratorin |
23. September 2023 | 12 Uhr | Eröffnung des zweiten Ausstellungsteils im Rahmen von „40 Jahre – Stiftung Preußische Seehandlung“ | Anna Schapiro im Gespräch mit Kunsthistorikerin und Akademiemitglied Bénédicte Savoy. Informationen unter https://stiftung-seehandlung.de/veranstaltungen/40-jahre-stiftung-preussische-seehandlung |
ANNA SCHAPIRO
Anna Schapiro wurde in Moskau geboren und wuchs in der hessischen Provinz auf. Sie lebt heute in Berlin, wo sie schreibt und bildnerische Werke schafft. Sie ist Gründungsmitglied und Mitherausgeberin der Zeitschrift „Jalta – Positionen zur Jüdischen Gegenwart“, Mitglied im Ministerium für Mitgefühl, Beirat im Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerk und war 2020 Beirat der KunstNothilfe.
Sie studierte übergreifendes künstlerisches Arbeiten an der HfKB Dresden bei Ulrike Grossarth, bei der sie auch Meisterschülerin war, sowie Bildhauerei an der Universidade do Porto, Portugal. Danach nahm sie das Studium der Jüdischen Studien am European Institute for Jewish Studies in Stockholm auf.
Anna Schapiro lehrte an der Muthesius Hochschule Kiel und lehrt aktuell an der Universität zu Köln. Ihre Arbeiten wurden unter anderem im Kunsthaus Dresden, im Museum für zeitgenössische Kunst Wrocław, dem Museum Vilha Velha, Vila Real, Portugal, der GFLK Halle Süd, Tölz, der Berlinischen Galerie im Centrum Judaicum, Berlin, sowie dem Kingsgate Project Space, London, gezeigt. Ihre ortsspezifischen Arbeiten sind in den Stadträumen in Wrocław und Kraków (PL), Finow in Brandenburg und in New York zu finden.