Das Vorhaben „Corpus Coranicum“ widmet sich zwei grundlegenden Desiderata der Koranforschung: eine Dokumentation des Korantextes in seiner handschriftlichen und mündlichen Überlieferungsgestalt und ein umfassender Kommentar, der den Text konsequent im Rahmen seines historischen Entstehungskontextes auslegt.

 

Im Gegensatz zur den derzeit verbreiteten gedruckten Koranausgaben, die sich an der Kairener Druckausgabe von 1923/24 orientieren, soll das hier vorgestellte Editionsprojekt sowohl die frühesten Zeugnisse der schriftlichen Koranüber- lieferung (Handschriften) als auch die in der islamischen Literatur tradierten mündlichen Lesevarianten des Textes umfassend zugänglich machen. Da das Schriftsystem früher Koranmanuskripte teilweise mehrdeutig ist (etwa durch das Fehlen von Vokalzeichen oder konsonantenunterscheidenden Diakritika), empfiehlt sich eine strikte Trennung zwischen handschriftlichem Befund einerseits und mündlich überlieferter Lesung des Textes andererseits; die Textdokumentation wird deshalb in Form einer doppelseitigen Gegenüberstellung beider Traditionswege dargestellt werden.

 

Der geplante Kommentar wird den Koran aus einer konsequent diachronen Perspektive in den Blick nehmen, d. h. als ein in über zwei Jahrzehnten sukzessive gewachsenes Korpus, welches formale, inhaltliche und terminologische Differenzen aufweist und in dem frühere Texte durch spätere Rückbezüge und Ergänzungen vielfach aus- und umgedeutet werden. Der Kommentar verfolgt zweitens einen surenholistischen Ansatz, welcher zumindest die mekkanischen Koransuren als durch nachweisbare Aufbaukonventionen und eine entsprechende Formensprache strukturierte literarische Einheiten anerkennt. Drittens beruht er auf einer umfassenden Heranziehung jüdisch-christlicher Intertexte. Hierbei ist allerdings das auf die Freilegung unmittelbarer Vorlagen gerichtete Ursprungsdenken traditioneller Koranphilologie, welches vom Paradigma einer linearen Einflussnahme älterer Traditionen auf den Koran ausgeht, zu hinterfragen: Der Koran wird nicht einfach passiv von vorgegebenen Inhalten und Formen geprägt, sondern er nimmt sie selektiv auf, gestaltet sie im Lichte der für die koranische Gemeinde relevanten Themen und Fragestellungen um oder steht in einer polemischen Debatte mit ihnen.
 

Corpus Coranicum – Die drei Module des Projektes

Projektdarstellung
Ausschnitt aus der 4. Sure in einem Koranmanuskript, 7.-8. Jahrhundert; Staatsbibliothek zu Berlin, Ms.or.fol. 4313, fol.1a



  • Modul 1: Textdokumentation

Ziel des ersten Projektmoduls ist es, die koranische Textüberlieferung in Form einer partiturartigen Übersicht zugänglich zu machen und der koranwissenschaftlichen Forschung damit eine bisher fehlende textkritische Basis zu geben. Da eine systematische Sichtung und Auswertung der wichtigsten vorhandenen Textzeugen bisher noch nicht geleistet worden ist, kann es dabei vorläufig nicht um eine „kritische Edition“ im herkömmlichen Sinne, also um die Rekonstruktion eines einheitlichen koranischen ‚Urtextes’ gehen; eine gesicherte Wertung der bezeugten Textvarianten im Hinblick auf ihre Ursprünglichkeit erscheint zum gegenwärtigen Zeitpunkt nur in Einzelfällen verantwortbar. Um diese wichtige Qualifikation auch terminologisch zu akzentuieren, wird das erste Projektmodul deshalb inzwischen als eine „Textdokumentation“ und nicht mehr, wie noch im Antrag, als „kritische Edition“ bezeichnet. Als Konsequenz hieraus ergibt sich, dass es nicht Anliegen des Projektes sein kann, die vielfältigen islamischen Druckausgaben des Koran durch eine von europäischen Wissenschaftlern erarbeitete ‚korrekte’ Koranedition zu ersetzen.

Projektdarstellung
Jemenitische Tora-Rolle Ms.or.fol. 1209 und Märtyrerbuch in ostsyrischem Duktus Ms. Sachau 222, fol. 260a; beide Staatsbibliothek zu Berlin


  • Modul 2: Datenbank „Texte aus der Umwelt des Koran“

Das zweite Projektmodul besteht aus einer Datenbank, welche sprachliche und inhaltliche Überschneidungen einzelner Koranpassagen mit vorkoranischen Traditionen (insbesondere mit dem biblischen und postbiblischen jüdisch-christlichen Schrifttum sowie der altarabischen Dichtung) verzeichnet. Dabei geht es nicht (wie gelegentlich in der älteren Forschung) darum, den Koran zu einer Blaupause oder Kopie früherer jüdisch-christlicher Schriften abzuwerten, sondern es sollen die Vorstellungen, Begriffe und Erzählungen dokumentiert werden, die im koranischen Milieu präsent gewesen sein könnten und derer sich der Koran bedient, um seine eigenen Positionen zu artikulieren. Aus diesem Grund ersetzt der Sprachgebrauch des Projekts ganz bewusst die früher gängige Rede von „Quellen“ durch eine Rede von „Intertexten“ oder „Überschneidungen“. Anhand der dokumentierten Texte aus der spätantiken Umwelt des Korans kann der kulturelle und religiöse Horizont der ersten Hörer der islamischen Verkündigung erschlossen werden. Vor dem Hintergrund der spätantiken Texte und Materialien und mit Bezug auf bzw. Abgrenzung von altarabischen, christlichen, jüdischen und anderen Traditionen kann die neue theologische Richtung der Verkündigung Muhammads gezeigt werden.

Projektdarstellung
Strukturelle Analyse der Sure 53
  • Modul 3: Literaturwissenschaftlicher Kommentar zum Koran

Anders als die Datenbank „Texte aus der Umwelt des Koran“, die lediglich kürzere Koranabschnitte auf etwaige Überschneidungen mit vorkoranischen Traditionen befragt, lässt sich eine Kommentierung des gesamten Textes nur auf der Basis bestimmter Annahmen über Entstehung und Kontext des zu kommentierenden Textes durchführen. Hier sind vor allem die folgenden Prämissen zu nennen: Zum einen geht die Kommentierung davon aus, dass zumindest die üblicherweise als „mekkanisch“ eingeordneten Koransuren philologisch nachweisbaren Strukturkonventionen folgen und folglich holistisch zu lesen sind, d. h. als ursprünglich zusammengehörige literarische Einheiten, sofern nicht konkrete Indizien einer nachträglichen Erweiterung, Redaktion o. ä. vorliegen (tatsächlich enthalten viele Korantexte spätere – wahrscheinlich noch zu Lebzeiten Muhammads entstandene – Einschübe und Zusätze, doch liegt die Beweislast unserer Meinung nach hier prinzipiell bei demjenigen, der einen solchen Einschub identifiziert zu haben glaubt). Zweitens nimmt der Kommentar die Tatsache ernst, dass es sich beim Koran um eine Sammlung von Einzeltexten handelt, die über einen Zeitraum von mehr als zwei Jahrzehnten entstanden sind und ein sehr unterschiedliches inhaltliches und formales Profil aufweisen. Die Arbeit am Kommentar folgt deshalb nicht der numerischen Reihenfolge der Suren in der kanonischen Textfassung, sondern bearbeitet die Suren in der Reihenfolge ihrer mutmaßlichen Entstehung. Dabei geht die Kommentierung von Theodor Nöldekes bahnbrechendem Versuch aus, anhand textimmanenter – d. h. stilistischer und terminologischer – Merkmale eine relative Chronologie der einzelnen Koransuren zu erarbeiten. Nöldekes Chronologie kann jedoch nicht unhinterfragt vorausgesetzt werden, da seine Datierung vieler Suren nur vage oder gar nicht gerechtfertigt wird. Zudem unterscheidet Nöldeke nur vier verschiedene Textklassen (früh-, mittel- und spätmekkanisch sowie medinensisch), so dass sich die Frage stellt, ob innerhalb dieser vier Surengruppen weitere chronologisch relevante Binnendifferenzierungen vorgenommen werden können.

Kontakt
Michael Marx
Arbeitsstellenleiter
Corpus Coranicum
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