Die Helmholtz-Medaille wird verliehen an
Professor Dr. Dr. h. c. mult. Arlie Russell Hochschild
in Anerkennung ihrer überragenden wissenschaftlichen Leistungen.
Arlie Russell Hochschild wurde 1940 in Boston (MA) geboren. Sie studierte Anfang der 1960er Jahre am Swarthmore College International Relations und erwarb 1965 ihren Master in Soziologie an der University of California, Berkeley, wo sie 1969 auch promoviert wurde. 1969 wurde sie Assistant Professor an der University of California, Santa Cruz, bevor sie 1971 mit der Rückkehr nach Berkeley ihre eigentliche Wirkungsstätte fand, der sie bis heute treugeblieben ist. Dort wurde sie 1983 Full Professor im Department of Sociology; seit 2006 ist sie ebenda Full Professor der Graduate School, womit sie in einem der wichtigsten und produktivsten Soziologie-Departments herausragende Leitungsfunktionen übernommen hat. Sie wirkt als Emerita dort weiter.
Arlie Hochschild wurde vielfach ausgezeichnet; ihr wurden Ehrendoktorwürden der Universitäten Westminster (GB), Lausanne (Schweiz), Swarthmore College (USA), Oslo (Norwegen), Aalborg (Dänemark), Lapland (Finnland), Mount Saint Vincent (Canada) und Harvard (USA) verliehen. 2022 wurde sie für ihr öffentliches Wirken in die California Hall of Fame aufgenommen. Dass ihre Bücher vielfach prämiert wurden, ist hier vielleicht nicht primär von Belang; wichtiger ist die Tatsache, dass sie in ihrer eigenen Profession einen überragenden Ruf besitzt und zwar – für das Fach Soziologie nicht selbstverständlich – über die subdisziplinären Grenzen hinaus. Sie erhielt sowohl den Lifetime Achievement Ward der Section on the Family der American Sociological Association (2015) als auch den Lifetime Achievement Award der Sociology of Emotions Section dortselbst (2001). Dass sie 2000 auch noch den Award for Public Understanding of Sociology erhielt, war dann fast zwangsläufige Folge ihres Wirkens.
Arlie Russell Hochschild – und damit zu ihrem Werk – steht in methodologischer Hinsicht fest im Feld einer qualitativ verfahrenden, ethnographisch geprägten Sozialforschung. Auf der Basis breiten Interviewmaterials und einer genauen teilnehmenden Beobachtung macht sie ihre Untersuchungsgegenstände für die Leser äußerst anschaulich, wobei es ihre Stärke ist, aus diesem Material präzise Schlussfolgerungen und oft auch unkonventionelle Einsichten zu gewinnen. Hochschild ist aber alles andere als eine „bloße“ Empirikerin. Geschult im Umfeld des Symbolischen Interaktionismus und auch inspiriert von den in den 1960er Jahren neu aufkommenden sozialtheoretischen Strömungen wie der Ethnomethodologie ging Hochschild immer ihren ganz eigenen Weg, indem sie gesellschaftspolitisch relevante Fragen und Probleme aufgriff und ihnen mit originellen theoretischen Perspektiven eine neue Lesart gab, um diese dann mit qualitativen Methoden fundiert zu analysieren.
Wenn man nach ihren Themen und Interessensgebieten fragt, so sind mindestens drei zu nennen:
Was die Soziologie der Emotionen angeht, so wird man vielleicht sagen dürfen, dass Hochschild sie im heutigen Sinne begründet hat. Natürlich gab es mit den Arbeiten von Norbert Elias bereits in den 1930er Jahren Werke, die sich mit Emotionen beschäftigten – konkret mit der Zivilisierung von (aggressiven) Affekten. Und natürlich hat auch Hochschilds berühmter Kollege Erving Goffman in seinen Analysen stets Emotionen im Alltagsleben mitbedacht. Doch es war Hochschild, die 1983 mit ihrem Buch „The Managed Heart: The Commercialization of Human Feeling“ die Emotionssoziologie erst zu einem zentralen Thema der Soziologie und Sozialwissenschaften machte, was auch die enormen Zitationszahlen zu diesem Buch beweisen. Hochschild etablierte damit ein Forschungsfeld, das seither stark expandiert ist und in dem auch heute immer wieder der Rückbezug auf ihr klassisches Werk gesucht wird. Was Hochschilds Buch (in viele Sprachen übersetzt, auch ins Deutsche) so außergewöhnlich macht, ist, dass sie anhand der Analyse der Arbeit in verschiedenen Berufsfeldern zeigt, wie sozialstrukturelle Faktoren nicht nur Emotionen beeinflussen und hervorrufen, sondern auch die Reflexion der AkteurInnen darüber. Die Soziologie der Emotionen wurde von Hochschild also auf eine Weise begründet, die wegführte von bloßer Spekulation um Definitions- und Abgrenzungsfragen und hin zu einer Verankerung in sozialen Verhältnissen und Konstellationen. Aber nicht nur die deskriptive und analytische Sichtweise Hochschilds war hier beispielgebend, sie warf mit ihrer Arbeit auch einen kritischen Blick auf den Zustand kapitalistischer Gesellschaften, in denen der Dienstleistungssektor immer stärker wird und „emotion work“ unerlässlich macht – mit potentiell negativen Folgen für das Selbstbild und die Authentizität der Gesellschaftsmitglieder.
Das nächste große und vielfach zitierte Buch von Hochschild, „The Second Shift: Working Parents and the Revolution at Home“ aus dem Jahre 1989 (wiederum vielfach übersetzt, auch ins Deutsche) führte sie auf ein anderes Feld, nämlich in den Bereich einer feministisch inspirierten Familiensoziologie, die gleichzeitig einen genauen Blick auf die von Lohnarbeit bestimmten Strukturen moderner Gesellschaften wirft. Denn Hochschild untersuchte hier erstmals, was durch die (Lohn-)Arbeit von heutigen „two-career parents“ ausgelöst wird, insbesondere wie sich die häusliche Arbeitsteilung zwischen den Paaren organisiert: höchst selten zum Vorteil der Frauen gestaltet und mit (im Übrigen nicht nur für die Frauen) oftmals enormen, auch gesundheitlichen Belastungen und Konflikten. Dieses auf der Basis vieler präziser Interviews erstellte Werk öffnete wiederum neue Bahnen, nun in der Familiensoziologie, betrachtete Hochschild doch so genau wie niemand zuvor, wie der kapitalistische Arbeitsmarkt auch die tägliche Interaktion in den Familien strukturiert.
Diese Forschungslinie wurde von Hochschild beibehalten: Mit enormer Produktivität folgten 1997 „The Time Bind: When Work Becomes Home and Home Becomes Work“ und 2002 „Global Woman: Nannies, Maids and Sex Workers in the New Economy“, wobei gerade das zuletzt genannte Buch nochmals einen anderen Schwerpunkt setzte und – mit Blick auf die Familie – die globale Dimension von „care work“ in den Fokus nahm, insofern – nicht nur in den USA – die familiären Bedürfnisse nur mehr mittels oft schlecht bezahlter migrantischer Arbeitskräfte erfüllt werden können. 2012 schließlich publizierte Hochschild „The Outsourced Self. Intimate Life in Market Times”, in dem sie gewissermaßen eine synthetisierende Quintessenz aus ihren familien- und emotionssoziologischen Studien zog, ein Buch, das selbstredend wiederum in viele Sprachen übersetzt wurde.
Mit „Strangers in Their Own Land: Anger and Mourning on the American Right” (deutsch bei Campus) gelang Hochschild 2016 – nun allerdings auf einem ganz anderen Feld, demjenigen der politisch-soziologischen Analyse – eine Art Weltbestseller, der nicht nur wissenschaftlich überzeugen konnte, sondern – als eine Art vorweggenommener Erklärung der Wahl Trumps – allein aus politischen Gründen schon enorme öffentliche Aufmerksamkeit auf sich zog. Hochschild richtete in diesem auf der Basis vieler Interviews verfassten Buch ihre scharfe analytische Aufmerksamkeit auf die Tea-Party und potentielle Trump-Wählerschaft im US-amerikanischen Süden. Sie zeigte auch mithilfe ihres emotionssoziologischen Analysebestecks, wie sich Ressentiments herausbilden, die sich dann in Wahlneigungen und -entscheidungen niederschlagen, die dem klassischen Bild eines von Interessen geleiteten Klassenkonflikts widersprechen. Hochschild – und das zeichnete die Studie aus – wahrte die gebotene professionelle Distanz zu den von ihr Untersuchten, eine Verurteilung der Tea-Party-Anhänger vermied sie ebenso wie deren „Umarmung“. Gerade deshalb wurde das Buch so erfolgreich, konnte es nicht nur anderen Ländern, sondern auch der US-amerikanischen Diskussion ein Bild von der politisch-emotionalen Dynamik vermitteln, die bis dato kaum je angemessen verstanden wurde. Nicht unerwähnt bleiben darf Hochschilds starke direkte Präsenz in der Fachdiskussion. Sie hat nicht nur mit ihren Büchern und Artikeln in die Fach- und weitere Öffentlichkeit gewirkt, sondern auch mit einer großen Anzahl von herausgehobenen Konferenzbeiträgen, darunter vielen Keynotes in Deutschland und anderen europäischen Ländern.
Die Helmholtz-Medaille wird verliehen an
Professor Dr. Dr. h. c. mult. Katalin Karikó
in Anerkennung ihrer überragenden wissenschaftlichen Leistungen.
Die bahnbrechenden biochemischen Arbeiten von Katalin Karikó haben die Grundlage für wirksame mRNA -basierte Therapeutika und Impfstoffe geschaffen, insbesondere für die schnelle Entwicklung von Impfstoffen gegen SARS-CoV-2 (BioNtech und Moderna). Gemeinsam mit dem Immunologen Drew Weissman entdeckte sie die Möglichkeit, durch Nukleosid-Modifikation die sequenzunspezifische Immunogenität von RNA zu unterdrücken.
Katalin Karikó wurde in Szolnok/Ungarn geboren und studierte Biologie und Biochemie an der Universität Szeged, wo sie 1982 promovierte und weiter bis 1985 tätig war. Danach ging sie als Postdoc an die Temple University (Philadelphia, USA), wo ihre RNA-Arbeiten begannen.
1989 wurde sie Research Assistant Professor am Department of Medicine an der University of Pennsylvania. Doch schon bald hatte sie Schwierigkeiten mit der Finanzierung ihrer Gundlagenforschung zu RNA-basierter Gentherapie. 1995 wurde sie zum Senior Research Investigator „degradiert“, nachdem ein Projektantrag nicht genehmigt worden war. Mit großer Hartnäckigkeit setzte sie ihre Forschung unter schwierigen materiellen Bedingungen fort. 1997 erhielt sie dann wieder Projektmittel mit Unterstützung eines Kollegen Drew Weissman, der damals über das HIV forschte, sodass sie ihre Forschung mehrere Jahre fortsetzen konnte. Ihre Ausdauer ist besonders bemerkenswert, weil die RNA-basierte Gentherapie zu dieser Zeit auf vielfältige Probleme stieß (Instabilität, Immunreaktionen) und die hohen therapeutischen Erwartungen durch den Tod eines Patienten plötzlich enttäuscht wurden.
Ab 2004 publizierte Katalin Karikó eine Reihe von Arbeiten über spezielle mRNA-Modifikationen (einige gemeinsam mit Drew Weissmann), die die (unerwünschte) sequenzunabhängige Immunreaktionen dramatisch verringern konnten. Darin zeigte sie, dass die RNA-Injektion in Zellen Immunantworten über Toll-artige Rezeptoren auslöst. Das allein war schon eine fundamentale Erkenntnis, die eine vollkommen neue Dimension der RNA-Regulation und der Anti-RNA-Abwehr im Immunsystem von Säugetieren aufzeigte.
Zwischen 1990 und 2010 erschien eine große Zahl von Arbeiten über RNA-Modifikationen, aber Karikós Substitution von Uridine durch Pseudouridine war der Schlüssel zu einer erfolgreichen Therapie. Auch verschiedene Reinigungsverfahren trugen dazu bei, die Immunogenität zu verringern und die Aufnahme in Zellen zu beschleunigen. Die Forschung von Katalin Karikó trug wesentlich dazu bei, dass es möglich wurde, Immunzellen mit mRNA so zu stimulieren, dass diese den Körper gegen aggressive Tumore schützen.
2013 erhielten Katalin Karikó und Drew Weissmann ein Patent über „RNA-modification for reducing antiviral immune reactions in response to mRNA“ (US8278036B2). Die Rechte blieben bei der University of Pennsylvania und sowohl Moderna als auch BioNTechn erwarben Lizenzen, um ihre SARS-CoV-2-Impfstoffe zu entwickeln.
Trotz ihrer großen Forschungserfolge wurde Katalin Karikó an der University of Pennsylvania nicht auf eine Professur auf Dauer berufen und nahm deshalb ein Angebot von Uğur Şahin an, in die Firma BioNTech einzutreten. wo sie heute Senior Vice President ist. An der University of Pennsylvania ist sie weiterhin Adjunct Professor an der Perelman School of Medicine. Seit Anfang 2020 wurden die von ihr entwickelten Methoden genutzt, um den ersten zugelassenen anti-SARS-CoV-2-Impfstoff zu entwickeln. Bereits wenige Tage, nachdem die Pandemie ausgerufen wurde, konnte dank ihrer Methoden der erste Mensch in einem Phase I-Test geimpft werden.
Die Bedeutung der Methodik und Strategie von Katalin Karikó reicht weit über den spektakulären Erfolg bei der SARS-CoV-2-Impfstoffentwicklung hinaus. Fortschritte bei der Krebstherapie scheinen nun erreichbar.
Laudatio anlässlich der Verleihung der Helmholtz-Medaille am 04.06.2022 (PDF, 147KB)
Die Helmholtz-Medaille wird verliehen an
Professor Dr. Dr. h. c. mult. Gábor A. Somorjai
in Anerkennung seines überragenden wissenschaftlichen Lebenswerks.
Gábor A. Somorjai ist einer der Väter des Forschungsfeldes, das wir heute „Surface Science“ nennen. Sein Interesse galt immer der Verbindung von Oberflächenchemie und heterogener Katalyse.
In den 1970er Jahren untersuchte er Pt‐Einkristalloberflächen mit verschiedenen Techniken, wie zum Beispiel Beugung niederenergetischer Elektronen (LEED), Molekülstrahlstreuung und Elektronenspektroskopie, und entdeckte, dass Oberflächendefekte, wie atomare Stufen und Kanten, einen entscheidenden Einfluss auf die Reaktivität haben. Diese Untersuchungen wurden unter Ultrahochvakuum-bedingungen durchgeführt.
Es war ihm aber ein großes Anliegen, eine Verbindung zu den ambienten Bedingungen der heterogenen Katalyse herzustellen. Gábor Somorjai hat die Entwicklung und den Einsatz einer Reihe von Techniken zur „in‐situ“-Charakterisierung von Oberflächen unter Reaktionsbedingungen auf atomarem Niveau angestoßen und beeinflusst. Zu diesen Techniken gehören die Rastertunnelmikroskopie unter höheren Drücken, die Röntgenphotoelektronenspektroskopie unter Hintergrunddruck sowie die Summenfrequenzmischung (letzteres in direkter Zusammenarbeit mit Ron Shen). Diese Techniken nehmen heute zunehmend Raum in der Forschung an Oberflächen, auch hier im Berliner Raum, ein.
Ausgehend von der Beobachtung des Einflusses von Defekten an Oberflächen, hat sich Gábor Somorjai dem Studium von Metallnanoteilchen, die über kolloidale Synthesemethoden hergestellt werden, zugewandt und mit den oben genannten Methoden untersucht. Dies führte zur Entdeckung neuer dynamischer Effekte von Nanoteilchen unter Reaktivitätsbedingungen. Seine neuesten Aktivitäten versuchen die Aktivitäten und Konzepte in den drei Bereichen der Katalyse – heterogene, homogene und enzymatische Katalyse – unter einheitlichen Gesichtspunkten zu diskutieren.
Mit ca. 1.200 Publikationen, 140 Doktoranden und 250 Postdoktoranden, die Gábor Somorjais Gruppe durchlaufen haben, und von denen 105 mittlerweile akademische Positionen einnehmen, hat er die Entwicklung von Surface Science und Katalyse gerade in den USA und Asien, aber auch in Europa maßgeblich beeinflusst. Die Scientific Community hat dies mit zahlreichen Ehrungen wie dem Wolf Foundation Prize in Chemistry (zusammen mit Gerhard Ertl) sowie der Priestley-Medaille der höchsten Auszeichnung der American Chemical Society (ACS).
Die Helmholtz-Medaille wird verliehen an
Professor Dr. Dr. h. c. mult. Rita R. Colwell
in Anerkennung ihres überragenden wissenschaftlichen Lebenswerks.
Rita Colwell gehört zweifelsohne zu den angesehensten Infektionsforscherinnen unserer Zeit. Ihre wissenschaftlichen Arbeiten verbinden in besonderer Weise Grundlagenforschung mit praktischer, translationaler biomedizinischer Anwendung.
Rita Colwell wurde 1934 in Beverly (Massachusetts, USA) geboren. 1956 erwarb sie einen Bachelor-Abschluss in Bakteriologie und 1958 einen Master-Abschluss in Genetik an der Purdue University (Indiana, USA). 1961 wurde sie in mariner Mikrobiologie an der University of Washington in Seattle promoviert. Die darauffolgenden Jahre verbrachte sie an der Georgetown University (Washington, D.C.) und an der University of Maryland (College Park). 1977 wurde Rita Colwell als erste Frau zur Direktorin des „Sea Grant Programs“ der University of Maryland ernannt. Dort war sie von 1987 bis 1991 Gründungsdirektorin des „Center of Marine Biotechnology“ und von 1991 bis 1998 Präsidentin des Biotechnologie-Instituts der University of Maryland. Dieses Institut wurde von ihr mit dem Ziel gegründet, das Potenzial von Mikroorganismen im Meer mit gentechnischen und molekularbiologischen Methoden für die Biotechnologie zu nutzen. Von 1983 bis 1990 war Rita Colwell im National Science Board tätig und war u. a. wissenschaftliche Beraterin des damaligen US-Präsidenten Ronald Reagan.
Rita Colwell gehört zu den international führenden Experten auf dem Gebiet mariner Mikrobiologie und Biotechnologie. Sie untersuchte vor allem die Phylogenie, die Ökologie und die Physiologie mariner Bakterien. Darüber hinaus hatte sie immer ein großes Interesse an der Anwendung molekulargenetischer Techniken bei der Gewinnung von medizinischen, technischen und Aquakultur-Produkten aus dem Meer.
Ihre vielfach bahnbrechenden Forschungsergebnisse veröffentlichte sie in rund 800 wissenschaftlichen Publikationen. Zugleich engagierte sich Rita Colwell auch erfolgreich für die Vermittlung ihres Wissens in der Öffentlichkeit. Hierfür ging sie mitunter eher ungewöhnliche Wege, wie etwa mit der Produktion des preisgekrönten Films „Invisible Seas“ über Mikroorganismen im Meer.
Zentraler Meilenstein ihrer Forschung waren ihre Untersuchungen in den 1960er Jahren zum Cholera-Bakterium: So konnte sie nachweisen, dass Cholera-Bakterien natürlicherweise in küstennahen Gewässern vorkommen und dass Ausbrüche von Cholera-Epidemien bei Menschen mit der Vermehrung von deren Wirtsmechanismen im Meer zusammenhängen.
Aber auch auf anderen Gebieten mariner Mikrobiologie leistete Rita Colwell richtungsweisende Beiträge. Sie fand beispielsweise heraus, dass Bakterien existieren, welche die Umwelt verschmutzendes Erdöl im Meer abbauen. Des Weiteren konnte sie belegen, dass Austern-Larven von bestimmten Bakterienansammlungen im Wasser angezogen werden, was sich erfolgreich in der Austernzucht anwenden ließ.
In Anerkennung ihrer wissenschaftlichen Leistungen wurde sie mit mehr als 60 Ehrendoktorwürden ausgezeichnet. Rita Colwell ist Mitglied der US-National Academy of Sciences, der American Academy of Arts and Sciences, der Royal Society of Canada sowie der Königlich Schwedischen Akademie der Wissenschaften. Darüber hinaus erhielt sie 1985 den Fisher Award der American Society for Microbiology, 2006 die National Medal of Science und 2017 den Vannevar Bush Award der National Science Foundation. Zu ihren Ehren ist außerdem das Colwell-Massiv in der Antarktis benannt.
Die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften ehrt Professor Dr. Rita R. Colwell mit der Helmholtz-Medaille als der höchsten ihr zur Verfügung stehenden wissenschaftlichen Auszeichnung. Damit würdigt die Akademie ihr überragendes wissenschaftliches Lebenswerk.
Die Helmholtz-Medaille wird verliehen an
Professor Dr. Dr. h. c. mult. Nicholas Rescher
in Anerkennung seines überragenden wissenschaftlichen Lebenswerks.
Nicholas Rescher gehört zweifelsohne zu den prominentesten Philosophen unserer Zeit. Als Vertreter des „Pragmatic Idealism“ verbinden seine Arbeiten klassische Fragestellungen der Philosophie sowie deutsche und englische idealistische Positionen mit Methoden klassischer pragmatischer, aber auch analytischer Philosophie. Er ist mithin ein Brückenbauer zwischen unterschiedlichen Traditionen der Philosophie und ein ausgewiesener Kenner der Philosophiegeschichte, der kontinentale Traditionen in die angelsächsische Philosophie einbringt und auch für seine eigene systematische Philosophie nutzbar macht.
Nicholas Rescher wurde 1928 in Hagen geboren. Seine Familie emigrierte 1938 aus politischen Gründen in die USA. Dort studierte er am New Yorker Queens College und an der Princeton University Mathematik und Philosophie. In Princeton wurde er auch 1951 mit gerade einmal 22 Jahren im Fach Philosophie promoviert. Alsdann arbeitete er als Mathematiker an einem der amerikanischen Think Tanks, der RAND Corporation in Santa Monica, die in der damaligen Zeit auch die weltweit überragende Forschungseinrichtung in meinem eigenen Fachgebiet, der mathematischen Optimierung, war. Auf eine erste Professur im Jahre 1957 an der Lehigh-University in Bethlehem, Pennsylvania, folgte 1961 die Berufung an die University of Pittsburgh, der er seitdem als Distinguished University Professor of Philosophy verbunden blieb. Zusammen mit Adolf Grünbaum gründete und leitete er dort auch ein bedeutendes Zentrum für Wissenschaftstheorie. 1977 wurde er Fellow am Corpus Christi College in Oxford.
Nicholas Reschers Werk ist von einer staunenswerten systematischen und historischen Breite. In mehr als einhundert Monographien, zum Teil in mehrere Sprachen übersetzt, umfasst sein Schaffen nahezu das gesamte Spektrum der theoretischen Philosophie von der Logik über die Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie bis hin zu Wahrheitstheorie, Ontologie und Metaphysik.
Am Beginn seiner Arbeiten standen Beiträge zur Geschichte der Logik, insbesondere der arabischen Traditionen, die über die mittelalterliche Philosophie auch das abendländische Denken geprägt haben. Im Rahmen dieses Schwerpunktes entstanden zwei bis heute beachtete Veröffentlichungen: „The Development of Arabic Logic“ (1964) und „Studies in Arabic Philosophy“ (1968). Neben den historischen Arbeiten stehen aber auch Beiträge zur Logik selbst: So hat er beispielsweise den sog. „Rescher quantifier“ entwickelt; hinzu kommen Arbeiten zu mehrwertigen Logiken, zur induktiven Logik, zur Wahrscheinlichkeitstheorie sowie zu quantitativen Zugängen zur Erkenntnistheorie. Nicholas Rescher gilt zudem mit zwei Kollegen der RAND Corporation, nämlich Olaf Helmer und Norman Dalkey, als Erfinder des sogenannten Delphi-Verfahrens zur systematischen Befragung und Vorhersage.
Wesentliche Vorarbeiten hat Rescher auch für die Rekonstruktion der Chiffrier- und Dechiffriermaschine, der „Machina Deciphratoria“, von Gottfried Wilhelm Leibniz geleistet, die in Hannover gezeigt wird.
Ein weiteres zentrales Feld, auf dem Nicholas Rescher gearbeitet hat, ist die Wahrheitstheorie und ihre Bedeutung für die Wissenschaftstheorie. Dabei betont er den Charakter von Wissenschaft als Prozess der Wahrheitssuche nach allgemein verbindlichen Standards. Rescher gilt als einer der prominentesten Vertreter der Kohärenztheorie der Wahrheit sowie der Prozessphilosophie; seine 1973 erschienene Monographie „The Coherence Theory of Truth“ avancierte zum Standardwerk.
Bereits 1964 gründete er das „American Philosophical Quarterly“, welches inzwischen als eines der wichtigsten englischsprachigen Publikationsorgane für fachwissenschaftliche Philosophie gilt. Publikumswirksam und gleichermaßen vergnüglich wie anregend zu lesen, veröffentlichte er 2015 „A Journey Through Philosophy in 101 Anecdotes“.
Nicholas Reschers Werk ist in vielfältiger Hinsicht gewürdigt worden; zahlreiche Ehrendoktorate, u.a. der Universitäten Konstanz und seiner Geburtsstadt Hagen, Gastprofessuren sowie Mitgliedschaften verschiedenster wissenschaftlicher Gesellschaften zeugen von der hohen Wertschätzung, die ihm weltweit entgegengebracht wird: So erhielt er 1984 den Humboldt-Forschungspreis, 2005 den Prix Mercier, und im Jahr 2011 wurde er mit dem Verdienstkreuz 1. Klasse des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland ausgezeichnet.
Nicholas Rescher hat den enzyklopädischen Anspruch der Philosophie auf beeindruckende Weise realisiert und zudem das schwierige Gespräch zwischen verschiedensten philosophischen Traditionen international stets in Gang gehalten.
Indem die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften Professor Nicholas Rescher mit der Helmholtz-Medaille als der höchsten ihr zur Verfügung stehenden Auszeichnung ehrt, würdigt sie dessen überragendes wissenschaftliches Lebenswerk.
Die Helmholtz-Medaille wird verliehen an
Professor Dr. Dr. h. c. mult. Murray Gell-Mann
in Anerkennung seiner überragenden wissenschaftlichen Leistungen.
Murray Gell-Mann, 1929 in New York City (USA) geboren, ist zweifelsohne einer der bedeutendsten Physiker unserer Zeit.
Von 1944 bis 1948 studierte er Physik an der Yale University und wurde 1951 am Massachusetts Institute of Technology (MIT) bei Victor Weisskopf promoviert. Nach einem Jahr als Postdoc am Institute for Advanced Study in Princeton arbeitete er als Associate Professor in der Gruppe von Enrico Fermi an der Universität Chicago. Von 1956 bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1993 war er Professor am California Institute of Technology. 1984 gehörte er zu den Gründern des Santa Fe Institute in New Mexico, wo er noch heute wissenschaftlich tätig ist.
1959 wurde er als Erster mit dem Dannie Heineman Prize for Mathematical Physics der American Physical Society ausgezeichnet. 1969 erhielt Murray Gell-Mann den Nobel-Preis für Physik „für seine Beiträge und Entdeckungen betreffend die Klassifizierung der Elementarteilchen und deren Wechselwirkungen“ und 2005 die Albert Einstein-Medaille der schweizerischen Albert Einstein-Gesellschaft. Darüber hinaus wurden ihm bis heute zahlreiche Ehrendoktorwürden zuteil.
Murray Gell-Mann hat entdeckt, dass die Baryonen und Mesonen aus kleineren Konstituenten bestehen, den Quarks, die permanent im Inneren der Teilchen gebunden sind. Quarks sind im Standardmodell der Teilchenphysik die elementaren Bestandteile (Elementarteilchen), aus denen Hadronen (z.B. die Protonen und Neutronen) bestehen. Die heutige Standardtheorie der Teilchenphysik beruht vor allem auf Gell-Manns Arbeiten zur starken und zur schwachen Wechselwirkung. Die von ihm eingeführten Beschreibungen und Modelle erklären dabei nicht nur die Eigenschaften, sondern auch die Massen der beobachteten Teilchen. Er hat anschaulich herausgearbeitet, was Materie in ihrem tiefsten Innern zusammenhält und damit maßgeblich zur Aufklärung grundsätzlicher Fragen der Kernphysik beigetragen.
Schon früh hat er mit fundamentalen Beiträgen zur Theorie und Klassifikation stark wechselwirkender Teilchen (Hadronen), aber auch auf anderen Gebieten der Quantenfeldtheorie und Elementarteilchenphysik auf sich aufmerksam gemacht. In den 1950-er Jahren entdeckte man in der kosmischen Strahlung neue Teilchen, die sechs Hyperonen und die K-Mesonen: 1953 konnte Gell-Mann die Bildung und den Zerfall dieser „neuen“ Teilchen durch die Einführung einer neuen Quantenzahl erklären, die er „strangeness“ nannte.
Ab Mitte der 1950er Jahre arbeitete er zusammen mit Richard Feynman an einer neuen Theorie der schwachen Wechselwirkung. 1960 schlug Murray Gell-Mann ein phänomenologisches Modell zur Klassifikation der Hadronen vor: Es war ihm gelungen, die Familien der Nukleonen und der Hyperonen durch die Einführung einer neuen Symmetrie, der sogenannten SU(3), zu beschreiben. Sowohl das Proton als auch das Neutron lassen sich mit sechs anderen Hyperonen als „Achter-Familie“ beschreiben, und auch die acht Mesonen sind als ein solches Oktett beschreibbar. Die Zahl „acht“ spielte offensichtlich eine zentrale Rolle in dieser neuen Symmetrie − Gell-Mann bezeichnete sie in Analogie zum Buddhismus als den „Eightfold Way“. Als Folge dieser Symmetriebetrachtungen musste er ein neues Teilchen einführen, das „Omega-Minus“, welches 1964 am Brookhaven National Laboratory entdeckt wurde. Damit erwies sich die SU(3)-Symmetriebetrachtung auch als prädiktiv. 1964 hatte er zur Erklärung dieser Symmetrie vorgeschlagen, dass schwere Teilchen (Hadronen) als Triplett dreier kleinerer Bausteine zusammengesetzt sind, die er als „Quarks“ bezeichnete. Die drei Quarks nannte er „u“ - „d“ - „s“. 1968 wurden die Quarks mit Hilfe von Elektronenstrahlen indirekt beobachtet, zunächst am SLAC National Accelerator Laboratory, später auch am DESY und am CERN. Es stellte sich heraus, dass man die Quarks zwar im Inneren der Nukleonen beobachten konnte, jedoch existierten sie nicht als freie Teilchen − sie waren permanent in den Teilchen eingeschlossen.
1971 führte Murray Gell-Mann zusammen mit Harald Fritzsch eine neue Quantenzahl für die Quarks ein – die „Farbe“. Jedes Quark hatte die „Farbe“ „rot“, „grün“ oder „blau“. Wiederum acht farbige „Gluonen“ führen zur permanenten Bindung der Quarks und der Gluonen in den dann beobachtbaren größeren Hadronen. 1972 konstruierten beide eine neue Eichtheorie der starken Wechselwirkung, die Quantenchromodynamik. Sie erwies sich als eine korrekte Theorie der starken Wechselwirkung und ist heute ein wesentlicher Teil der Standardtheorie der Elementarteilchen.
Indem die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften Professor Murray Gell-Mann mit der Helmholtz-Medaille als der höchsten ihr zur Verfügung stehenden Auszeichnung ehrt, würdigt sie dessen bahnbrechenden Forschungen, die in entscheidender Weise zum Verständnis der Kernphysik beigetragen und die bestehenden Paradigmen der Physik verändert haben.
Die Helmholtz-Medaille wird verliehen an
Professor Dr. Dr. h. c. mult. John C. Polanyi
in Anerkennung seiner überragenden wissenschaftlichen Leistungen.
John Charles Polanyi wurde 1929 in Berlin als Sohn des namhaften ungarischen Physikochemikers und Philosophen Michael Polanyi geboren, der damals am Kaiser-Wilhelm-Institut für physikalische Chemie und Elektrochemie in Dahlem wirkte, aus dem das heutige Fritz-Haber-Institut der Max-Planck-Gesellschaft hervorging. Nach der Errichtung der nationalsozialistischen Diktatur im Jahre 1933 war die Familie gezwungen, nach England zu emigrieren.
John C. Polanyi nahm an der dortigen University of Manchester ein Studium der Chemie auf, wo er auch 1952 seinen Ph.D. erwarb. Anschließend ging er als Postdoctoral Fellow an das National Research Council Canada, die oberste staatliche Behörde für wissenschaftliche und industrielle Forschung Kanadas, sowie an die Princeton University im US-Bundesstaat New Jersey. Im Jahre 1956 übernahm er eine Position als Lecturer an der University of Toronto/ Kanada, wo er seit 1962 eine Professur für Chemie inne hat.
Im Verlaufe seiner langjährigen wissenschaftlichen Karriere führte John C. Polanyi bahnbrechende Untersuchungen auf dem Gebiet der Dynamik chemischer Reaktionen durch – eine Leistung, für die er 1986 zusammen mit Dudley R. Herschbach und Yuan T. Lee mit dem Nobelpreis für Chemie ausgezeichnet wurde. Durch die IR-spektroskopische Untersuchung der Lumineszenz der Reaktionsprodukte konnte John Polanyi dabei die Verteilung der bei diesen Prozessen freigesetzten Energie auf die verschiedenen Freiheitsgrade ermitteln und im Rahmen theoretischer Konzepte diskutieren. Damit gelang es ihm, grundlegende Erkenntnisse über den Ablauf chemischer Reaktionen zu liefern. Bereits früh hat er auch das Prinzip eines chemischen Lasers vorgeschlagen, der dann später durch Andere experimentell realisiert wurde. In den vergangenen Jahren leistete er zudem wichtige Beiträge sowohl zur Dynamik von Oberflächenreaktionen als auch zu anderen Forschungsbereichen, vor allem der Nanotechnologie.
Über seine herausragenden wissenschaftlichen Leistungen hinaus engagiert sich der vielseitig interessierte Intellektuelle und Bürger John Polanyi auch seit langem in der internationalen Friedensbewegung: So ist er Präsident des Canadian Committee for Scientists and Scholars, einer Menschenrechtsorganisation, sowie Gründungsmitglied und Chairman der kanadischen Sektion der Pugwash Conferences on Science and World Affairs, die 1995 ihrerseits mit dem Friedens-Nobelpreis gewürdigt wurden.
Vielfältige Ehrungen und Mitgliedschaften in- und ausländischer Akademien zeugen von der hohen Wertschätzung, die dieser Forscherpersönlichkeit weltweit entgegengebracht wird: So ist John C. Polanyi Fellow der Royal Socities of Canada, London und Edinburgh. Des Weiteren ist er Mitglied der American Academy of Arts and Sciences, der National Academy of Sciences (NAS) der USA, der Päpstlichen Akademie der Wissenschaften (Rom) sowie der Russischen und der Kroatischen Akademie der Wissenschaften. Darüber hinaus ist er Mitglied des Queen's Privy Council for Canada, und er ist Companion of the Order of Canada.
Herr Polanyi war Mitglied des Advisory Board on Science and Technology des kanadischen Premierministers und des Council of Ontario Universities; darüber hinaus war er ehrenamtlicher Berater des japanischen Institute for Molecular Science und des Max-Planck-Instituts für Quantenoptik in Garching. Zusammen mit Sir Brian Urquhart stand er dem Department of Foreign Affairs International Consultative Committee on a Rapid Response Capability for the United Nations vor.
Neben dem bereits erwähnten Nobelpreis für Chemie wurde er mit der Royal Medal der Londoner Royal Society ausgezeichnet. Bis heute erhielt er mehr als 30 Ehrendoktorwürden, unter anderem der Harvard University, des Weizmann Institute of Science (Rehovot/ Israel) und der Freien Universität Berlin.
Indem die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften Professor John Charles Polanyi mit der Helmholtz-Medaille als der höchsten ihr zur Verfügung stehenden Auszeichnung ehrt, würdigt sie dessen überragendes wissenschaftliches Gesamtwerk auf dem Gebiet chemischer Reaktionen.
Die Helmholtz-Medaille wird verliehen an
Professor Dr. phil. Dr. h. c. Niels Birbaumer
in Anerkennung seiner überragenden wissenschaftlichen Leistungen.
Niels Birbaumer wurde 1945 in Ottau (Tschechische Republik) geboren und studierte Psychologie, Statistik und Physiologie an der Universität Wien, wo er 1969 mit einer Arbeit über „Das EEG bei Blindgeborenen“ zum Dr. phil. promoviert wurde. 1975 habilitierte er sich in „Physiologischer Psychologie“ und nahm einen Ruf für das Ordinariat Klinische und Physiologische Psychologie der Universität Tübingen an. Seit 1993 ist er an der dortigen Medizinischen Fakultät Ordinarius für Medizinische Psychologie und Verhaltensneurobiologie sowie Leiter des Zentrums für Magnetenzephalographie.
Herr Birbaumer ist einer der namhaftesten und international bekanntesten deutschsprachigen Neurowissenschaftler, der sich seit Jahrzehnten mit großem Erfolg und hoher Produktivität der Biologischen Psychologie und der Erforschung der Plastizität des menschlichen Gehirns widmet. Er ist einer der Wegbereiter einer interdisziplinären Verknüpfung von Medizin und Psychologie. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Neuroprothetik (Brain-Computer-Interfaces), Neuroimaging von Lernprozessen und Emotionen, die Verhaltensmedizin in der Neurologie, die Neurobiologie chronischer Schmerzen, Lernprozesse und der Plastizität des Gehirns sowie die Neurophysiologie der Musik.
Bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt entdeckte Niels Birbaumer mit seiner damaligen Arbeitsgruppe, dass sich die hirnelektrische Aktivität mittels Rückmeldung (das sog. Bio-Feedback) gezielt beeinflussen lässt – ein zunächst als Grundlagenerkenntnis publiziertes Forschungsresultat, das dann von ihm sehr erfolgreich auf klinische Anwendungen, beispielsweise auf die Therapie von Epileptikern mit einer Reduzierung der Anfallshäufigkeit, übertragen wurde. Als spektakulärer erwies sich sodann die Übertragung auf das sog. Brain-Computer-Interface, bei dem schwerstbeeinträchtigte Patienten, die über keinerlei motorische Möglichkeiten mehr verfügen, ihre hirnelektrische Aktivität so beeinflussen, dass damit Computer gesteuert werden und sie mit ihrer Umwelt noch kommunizieren können. Diese beeindruckenden Arbeiten wurden von Herrn Birbaumer, der zu zahlreichen Fachkongressen als Key Note-Speaker eingeladen wurde, hochkarätig (u.a. in der Zeitschrift Nature) publiziert, so dass ihnen auch eine hohe internationale Anerkennung beschieden war.
Neben seinen zentralen Forschungsthemen hat Niels Birbaumer eine große Zahl unterschiedlicher Forschungsthemen initiiert und vorangetrieben, so unter anderem zur Frage der Reorganisation der kortikalen Repräsentationen bei Amputierten und Schmerzpatienten, zur kortikalen Repräsentation von Funktionen, die beim Kopfrechnen relevant sind, oder zur Neuropsychologie von Kleinhirnpatienten.
Von seiner hoher Produktivität und Kreativität als Forscher zeugen bis dato mehr als 500 intensiv rezipierte wissenschaftliche Publikationen in internationalen Fachzeitschriften; darüber hinaus ist er Autor und Herausgeber wissenschaftlicher Bücher in englischer, deutscher und italienischer Sprache. Sein mit R.F. Schmidt verfasstes Lehrbuch „Biologische Psychologie“ avancierte zu einem Standardwerk, das in zahlreichen Ausbildungsgängen der Psychologie, Biologie und Neurowissenschaften grundlegend geworden ist.
Gastprofessuren, die von der internationalen Anerkennung seiner Leistungen zeugen, führten Niels Birbaumer, der zweifelsohne als Mentor der deutschen Verhaltensmedizin bezeichnet werden kann, unter anderem bereits früh an die University of Wisconsin/ Madison, die Pennsylvania State University sowie an die angesehenen National Institutes of Health (NIH, Bethesda/ USA) und an die Universität Padua. Als einer der Ersten wurde er 1995 mit dem Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft ausgezeichnet; 2010 verlieh ihm die Friedrich-Schiller-Universität Jena ihre Ehrendoktorwürde. Des Weiteren ist er Mitglied der Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz, und der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina – Nationale Akademie der Wissenschaften.
Indem die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften Professor Niels Birbaumer mit der Helmholtz-Medaille als der höchsten ihr zur Verfügung stehenden Auszeichnung ehrt, würdigt sie sein wissenschaftliches Gesamtwerk auf dem Gebiet der Biologischen Psychologie, insbesondere auch bei der Erforschung der Plastizität des menschlichen Gehirns.
Die Helmholtz-Medaille wird verliehen an
Professor em. Dr. phil. Dres. h. c. Peter Wapnewski
in Anerkennung seiner überragenden wissenschaftlichen Leistungen.
Mit Peter Wapnewski, geboren 1922 in Kiel, zeichnet die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften nicht nur den bekanntesten deutschen Altgermanisten mit diversen magistralen Veröffentlichungen zum Minnesang samt der übrigen mittelhochdeutschen Literatur aus, sondern auch einen Philologen mit weitem Horizont, der überdies beispielsweise im Bereich der Tonsprache vor allem Richard Wagners zentrale Beiträge vorgelegt hat.
1949 wurde der ausgebildete Altgermanist Wapnewski aufgrund einer Arbeit mit dem Titel „Die Übersetzung mittelhochdeutscher Lyrik im 19. und 20. Jahrhundert“ in Hamburg zum Dr. phil. promoviert. Nach Assistentenjahren, einer zugleich quellen- und formorientierten Habilitationsschrift über „Wolframs Parzival. Studien zur Religiosität und Form“ (1955) und einer Privatdozentur wurde er 1959 zum Ordentlichen Professor der Deutschen Philologie an der Universität Heidelberg ernannt, nachdem er zuvor ein prägendes Semester in Harvard verbracht und einen Ruf an die nämliche Universität abgelehnt hatte. 1966 nahm er einen Ruf an die Freie Universität Berlin an; drei Jahre später wechselte Wapnewski an die Universität Karlsruhe. Von 1982 bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1990 war er Ordentlicher Professor der Älteren Deutschen Philologie an der Technischen Universität Berlin. Als Permanent Fellow (seit 1980) und Gründungsrektor von 1982 bis 1986 hat Wapnewski maßgeblichen Anteil an der gelungenen Institutionalisierung des Wissenschaftskollegs zu Berlin, des ersten Institute for Advanced Study auf deutschem Boden. Solides philologisches Handwerk ist seit frühester Zeit immer die Basis seiner Veröffentlichungen geblieben – ein gut Teil seiner mediävistischen Arbeiten besteht aus kommentierten Editionen (z. B. „Das Rolandslied des Pfaffen Konrad“, Walther von der Vogelweide. Gedichte), hinzu kommen einleitende Darstellungen (beispielsweise „Deutsche Literatur des Mittelalters. Ein Abriß von den Anfängen bis zur Blütezeit“ oder „Hartmann von Aue“). Seine vielen, einschlägigen Aufsätze sind zum Teil in einem eigenen Band gesammelt („Waz ist minne. Studien zur mittelhochdeutschen Lyrik“). Nicht zuletzt verbindet sich der Name Peter Wapnewskis mit einer Reihe von Publikationen über Richard Wagner (z. B. „Der Traurige Gott. Richard Wagner in seinen Helden“).
Indem die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften Peter Wapnewski mit der höchsten ihr zur Verfügung stehenden Auszeichnung ehrt, würdigt sie das wissenschaftliche Lebenswerk dieses herausragenden und wohl bekanntesten deutschen Altgermanisten und Philologen, einen im Stil zurückhaltenden, in der Sache aber entschlossenen Aufklärer und Gelehrten von höchstem internationalen Rang, dessen Wirken weit über die eigene Disziplin hinaus ausstrahlt.
Die Helmholtz-Medaille wird verliehen an
Professor em. Dr.-Ing. Dr. h.c. mult. Dr.-Ing. E.h. mult. Günter Spur
in Anerkennung seiner überragenden wissenschaftlichen Leistungen.
Professor em. Dr.-Ing. Dr. h.c. mult. Dr.-Ing. E.h. mult. Günter Spur, geboren 1928 in Braunschweig, gehört zu den international namhaftesten Technikwissenschaftlern Deutschlands.
Er studierte von 1948-54 an der Technischen Hochschule seiner Heimatstadt Maschinenbau mit der Fachrichtung Fertigungstechnik. Von 1956-61 arbeitete er – zunächst als Wissenschaftlicher Assistent, dann als Oberingenieur und Leiter des Versuchsfeldes – am Institut für Werkzeugmaschinen und Fertigungstechnik der TH Braunschweig, wo er 1960 zum Dr.-Ing. promoviert wurde. In den Jahren 1962-65 war er – nachdem er dort zuvor als Konstrukteur gearbeitet hatte – in der renommierten Bielefelder Werkzeugmaschinenfabrik Gildemeister als Konstruktionsleiter und -direktor tätig. In dieser Zeit entstanden bedeutende technische Entwicklungen im Bereich der Drehmaschinen, die mit wichtigen Patenten belegt sind.
1965 wurde Günter Spur als Professor auf den traditionsreichen Lehrstuhl für Werkzeugmaschinen und Fertigungstechnik der Technischen Universität Berlin berufen, der 1904 von Georg Schlesinger gegründet wurde und als Wiege der modernen Betriebswissenschaft gilt. Zugleich wurde er zum Direktor des Instituts für Werkzeugmaschinen ernannt. Berlin, für G. Spur stets Brücke zwischen Ost und West, wurde fortan zum Zentrum seines Wirkens. Wiederholt hatte er auf die Notwendigkeit hingewiesen, ein Institut für Produktionstechnik einzurichten, das angewandte Forschung und Entwicklung für Wirtschaft und öffentliche Auftraggeber betreiben sollte: 1976 wurde schließlich das Berliner Fraunhofer-Institut für Produktionsanlagen und Konstruktionstechnik gegründet und G. Spur zu dessen Leiter bestellt. Bis zu seiner Emeritierung 1997 prägte und etablierte Günter Spur das im Produktionstechnischen Zentrum Berlin (PTZ) zu einem Doppelinstitut zusammengeführte Institut für Werkzeugmaschinen und Fabrikbetrieb (IWF) der TU Berlin und das Fraunhofer Institut für Produktionsanlagen und Konstruktionstechnik (IPK) zu einem weltweit bekannten und führenden Zentrum der Verbindung von universitärer Einheit von Forschung und Lehre mit der industrienahen Anwendungsorientierung. Aus dieser Berliner Schule der Produktionswissenschaft gingen unzählige diplomierte und promovierte Ingenieure sowie zahlreiche Professoren an Universitäten und Fachhochschulen hervor. Gleichzeitig sind auf die Innovationskraft G. Spurs und seiner Mitarbeiter am Doppelinstitut mehr als 40 Firmengründungen zurückzuführen.
Die große Bandbreite und der herausragende Einfluss der wissenschaftlichen Arbeiten Günter Spurs werden durch weit über 800 wissenschaftliche Veröffentlichungen, zahlreiche Vorträge im In- und Ausland sowie 20 Patente dokumentiert. Umfangreiche Monographien geben in eindrucksvoller Weise Zeugnis seines OEuvres – exemplarisch genannt seien: „Optimierung des Fertigungssystems Werkzeugmaschine“ (1972), „Produktionstechnik im Wandel“ (1979), „Keramikbearbeitung“ (1989), „Vom Wandel der industriellen Welt durch Werkzeugmaschinen“ (1991), „Fabrikbetrieb“ (1994), „Die Genauigkeit von Maschinen. Eine Konstruktionslehre“ (1996), „Das virtuelle Produkt. Management der CAD-Technik“ (1997, gem. mit F.-L. Krause) und „Vom Faustkeil zum digitalen Produkt. Ein kulturgeschichtlicher Beitrag zur Entwicklung der Berliner Produktionswissenschaft“ (2005). Die gemeinsam mit W. Fischer herausgegebene Publikation „Georg Schlesinger und die Wissenschaft vom Fabrikbetrieb“ (2000) greift das Schicksal des von den Nazis aus Deutschland vertriebenen Schlesinger und dessen Mitarbeiter auf und reflektiert zugleich die politisch-soziale sowie wirtschaftlich-technische Entwicklung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Darüber hinaus ist G. Spur Herausgeber des zum Standardwerk der Produktionswissenschaft avancierten mehrbändigen „Handbuchs der Fertigungstechnik“.
Nach Günter Spur ist die Leitlinie einer weiterentwickelten neuen Produktionstechnik in weitaus geringerem Maße als früher in der Mechanik zu sehen, basiert sie doch vielmehr auf dem engen Zusammenwirken unterschiedlicher neuer Technologien. Früh erkannte er, dass die Fortschritte der Produktionstechnik gerade an den Schnittstellen der Fertigungs- und Werkstofftechnik beispielsweise zur Informations- und Elektrotechnik, zur Verfahrens-, Bau- oder Biotechnik sowie zur Mikroelektronik entstehen – Technologiefelder, die es intelligent und innovativ miteinander zu vernetzen gilt. Eine derart definierte,global orientierte Produktionstechnik muss – wenn sie zur Lösung gesamtgesellschaftlicher Fragen beiträgt – die Probleme des Arbeitsmarkts und Verkehrs genauso berücksichtigen wie die Verschwendung von Ressourcen. Sie zielt daher auf eine umweltschonende Verbesserung der Mobilität und Optimierung der Versorgung mit dem Produktionsfaktor Information, aber auch auf den Schutz und die Bewahrung der Gesundheit des Menschen: Lebenstechnik und Gesundheitstechnik sind Begriffe, die Günter Spur geprägt hat. Mit den Sonderforschungsbereichen „Produktionstechnik und Automatisierung“ sowie „Rechnerunterstützte Konstruktionsmodelle im Maschinenwesen“ hat G. Spur nicht nur wesentliche Impulse für die wissenschaftliche Zusammenarbeit aller am Fabrikbetrieb beteiligten Disziplinen und insbesondere für die Integration der Bereiche Konstruktion und Fertigung gegeben, sondern auch Automatisierungsgeschichte geschrieben. Mit unvermindertem Engagement und Visionskraft konzentriert er sich heute sowohl auf Fragen der Zukunft von Produktion und Produktionswissenschaft und der Systematisierung von Innovationsprozessen als auch auf Themen der Technikgeschichte und ‑philosophie.
Schon früh ist Günter Spur zu einem gefragten Gesprächspartner und Berater über seine eigene Disziplin hinaus geworden: So war er u.a. langjähriger Wissenschaftlicher Rat der Arbeitsgemeinschaft industrieller Forschungsvereinigungen (AiF) und Kurator der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt. Bleibende Verdienste erwarb er sich auch bei der Neukonstituierung der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, als Gründungsrektor der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus sowie als Initiator von acatech – Konvent für Technikwissenschaften der Union der deutschen Akademien der Wissenschaften e.V.
Zahlreiche Ehrendoktorate und Mitgliedschaften in- und ausländischer Akademien zeugen von der hohen Wertschätzung, die diesem Forscher seit Jahrzehnten entgegengebracht wird. Seine Leistungen sind mit höchsten Ehrungen wie u.a. dem Großen Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland (1984), der Grashof-Denkmünze des VDI (1991), der M. Eugene Merchant Manufacturing Medal of ASME/SME (1992), der Ehrenmitgliedschaft der Technischen Universität Berlin (1998), dem Georg-Schlesinger-Preis 2000 für hervorragende Leistungen auf dem Gebiet der Produktionstechnik sowie dem Eduard-Rhein-Wissenschaftspreis der deutschen Technion-Gesellschaft (2002) gewürdigt worden und sichern ihm einen bleibenden Rang.
Indem die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften ihr Gründungsmitglied Günter Spur mit der höchsten ihr zur Verfügung stehenden Auszeichnung ehrt, würdigt sie das wissenschaftliche Lebenswerk eines herausragenden Technikwissenschaftlers von höchstem internationalen Rang, dessen Wirken über die eigene Disziplin hinaus in viele andere Wissenschaftsgebiete ausstrahlt.
Die Helmholtz-Medaille wird verliehen an
Professor Dr. phil. Hans-Ulrich Wehler
in Anerkennung seiner überragenden wissenschaftlichen Leistungen.
Professor Dr. phil. Hans-Ulrich Wehler hat die Disziplin der Neuzeit-Geschichte in Deutschland in einem stärkeren Maße verändert, als jeder andere lebende Historiker: Als ein Historiker von höchstem Rang und herausragender Originalität, ist er zugleich ein streitbarer Intellektueller mit der Fähigkeit zu geschliffener Polemik und spitzem Urteil, dessen Äußerungen von den Medien gesucht werden. Seine weitgespannten Interessen, der Horizont seiner Eingriffe und das Spektrum seiner Reputation reichen weit über die eigentliche Geschichtswissenschaft hinaus und in andere Disziplinen sowie nicht zuletzt in die öffentliche Diskussion hinein. Er verbindet die Exzellenz des Wissenschaftlers mit dem kritischen Schwung und dem aufklärerischen Engagement des öffentlichen Intellektuellen und Bürgers – ohne Wehler sähe die deutsche Geschichtswissenschaft anders aus.
Hans-Ulrich Wehler wurde 1931 in Freudenberg im Siegerland geboren. Nach dem Abitur im Jahre 1952 studierte er bis 1959 an den Universitäten in Bonn und Köln Geschichte, Soziologie und Wirtschaftswissenschaft. 1952/53 widmete er sich als Fulbright-Student an der Ohio University (Athens, Ohio/USA) dem Studium der amerikanischen Geschichte. 1960 wurde er an der Universität zu Köln bei Theodor Schieder promoviert. Anschließend war er von 1961 bis zur Habilitation 1968 Assistent am dortigen Historischen Seminar, wo er bis 1970 als Privatdozent tätig war. 1970/71 wurde H.-U. Wehler zum Professor für amerikanische Geschichte am John F. Kennedy-Institut für Nordamerikastudien der Freien Universität Berlin ernannt. Im gleichen Jahr folgte er einem Ruf als Professor für Allgemeine Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts an die Universität Bielefeld, an der er bis zu seiner Emeritierung 1996 lehrte.
Als Angehöriger der sogenannten Flakhelfer-Generation tiefgeprägt durch die lebensgeschichtliche Nähe zur ‚deutschen Katastrophe’ der Jahre 1933 bis 1945, steht die Deutung des Nationalsozialismus und seines Ortes in der deutschen Geschichte im Zentrum des historischen Denkens, Forschens und Schreibens von Hans-Ulrich Wehler: Von daher erschließt und begründet sich auch sein kritisches Verständnis der deutschen Nationalgeschichte, die er gern mit der Geschichte westlicher Länder vergleicht, sowie sein entschieden liberales, aufklärungsgeprägtes Engagement in den politischen und wissenschaftlichen Kontroversen der Gegenwart. Seit den 60er Jahren hat H.-U. Wehler, der sich mit zahlreichen Essays, Interviews und scharfsinnigen Polemiken aktiv an den intellektuell-politischen Diskursen der Bundesrepublik beteiligt hat, einer jüngeren Generation traditionskritischer Historiker als Beispiel gedient. Rasch wurde er zum Kopf einer Schule, dessen Wirkungs- und Bekanntheitsgrad weit über die eigentlichen Fachgrenzen hinaus reicht und ihn unter den wenigen deutschen Historikern in den Rang eines öffentlichen Intellektuellen erhob. Seine internationale Bekanntheit ist groß, insbesondere in der anglo-amerikanischen Welt: Gastprofessuren führten ihn in der Vergangenheit immer wieder in die USA – so lehrte er an der Harvard University (1972, 1989), der Princeton University (1976), an der Stanford University (1983/84) sowie an der Yale University (1997).
Durch Rückgriff auf die Theorien Max Webers, beeinflußt durch amerikanische Wissenschaftsentwicklungen und inspiriert durch die Ansätze der Frankfurter Schule hat Hans-Ulrich Wehler die Tradition der deutschen Geschichtswissenschaft nicht nur gründlich bearbeitet, sondern auch mehr als jeder andere Historiker kritisch reformiert: Dies dokumentierte sich vor allem in Absetzung vom verengten Historismus der Geschichtswissenschaft, durch die Erweiterung ihrer analytischen Möglichkeiten und Betonung ihrer Theoriebedürftigkeit sowie durch das Insistieren auf ihrer Pflicht zum aufklärerischen Engagement. Er begann mit bahnbrechenden Monographien, so beispielsweise „Sozialdemokratie und Nationalstaat. Nationalitätenfrage in Deutschland 1840-1914“ (1962, 1971²), „Bismarck und der Imperialismus“ (erstmals 1969) sowie „Der Aufstieg des amerikanischen Imperialismus. Studien zur Entwicklung des Imperium Americanum 1865-1900 (erstmals 1974). Immer wieder nahm er mit geschliffenen Essays, u.a. harten Polemiken und öffentlichen Einlassungen sowohl zu den großen Fragen der Zeit und der Geschichtswissenschaft als auch zu Problemen von allgemeinem Interesse öffentlich Stellung: So zum Beispiel zur Preußen-Renaissance wie zum Historikerstreit, zum Nationalsozialismus und zur DDR, zum Ort der Bundesrepublik in der deutschen Geschichte, zum Verhältnis zwischen Deutschland und den USA, aber auch zur Auseinandersetzung und zum Verhältnis zwischen der Sozialgeschichte und Politikgeschichte respektive Alltagsgeschichte sowie zur Beziehung zwischen der Sozialgeschichte und den kulturalistischen Ansätzen der Gegenwart. Beginnend mit dem Band „Vom Feudalismus des Alten Reiches bis zur Defensiven Modernisierung der Reformära 1700-1815“ erscheint seit 1987 H.-U. Wehlers inzwischen bereits in mehreren Auflagen vorliegende monumentale „Deutsche Gesellschaftsgeschichte“, deren vierter und bisher letzter Band „Vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1914-1949“ im Herbst 2003 veröffentlicht wurde. Bei diesem opus magnum dürfte es sich um die gleichermaßen gewichtigste, informierteste, umfangreichste und analytisch anspruchsvollste Synthese der neueren Geschichte eines Landes aus der Hand eines einzelnen Historikers handeln, die – beispiellos und ohne Parallele – zweifellos große Geschichtsschreibung und ein Lebenswerk darstellt.
Es ist H.-U. Wehlers besonderes und bleibendes Verdienst, die deutsche Geschichtswissenschaft gegenüber den benachbarten Sozialwissenschaften geöffnet zu haben: Exemplarisch genannt für sein umfangreiches Œuvre, das zudem zahlreiche Herausgeberschaften umfaßt, seien seine bahnbrechenden, immer wieder neu aufgelegten, ungemein erfolgreichen Monographien wie „Das Deutsche Kaiserreich 1871-1918“ (erstmals 1973), und sein in vielen Schriften entwickeltes Programm der Geschichtswissenschaft als einer „Historischen Sozialwissenschaft“ (erstmals 1973: „Geschichte als Historische Sozialwissenschaft“). Er ist Gründer der seit 1975 erscheinenden Zeitschrift „Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für Historische Sozialwissenschaft“, als deren Hauptherausgeber er bis heute wirkt. Zahlreiche seiner Publikationen wurden auch in andere Sprachen übersetzt, so jüngst seine Veröffentlichung „Nationalismus. Geschichte, Formen, Folgen“ (erstmals 2001). Hans-Ulrich Wehler hat der Sozialgeschichte hierzulande zum Durchbruch verholfen – einer Sozialgeschichte, die Politik- und Wirtschaftsgeschichte gründlich einbezieht.
Von der hohen Anerkennung, die diesem Wissenschaftler und Intellektuellen im In- und Ausland zuteil wird, zeugt u.a. auch seine Ernennung zum auswärtigen Ehrenmitglied der American Historical Association (2000), die Zuerkennung des CICERO Rednerpreises (2003) sowie die Verleihung des Staatspreises des Landes Nordrhein-Westfalen für das Jahr 2003.
Indem die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften Hans-Ulrich Wehler mit der höchsten ihr zur Verfügung stehenden Auszeichnung ehrt, würdigt sie dessen überragende wissenschaftliche Leistungen und verleiht zugleich ihrer hohen Wertschätzung für den streitbaren Historiker und engagierten öffentlichen Intellektuellen Hans-Ulrich Wehler Ausdruck.
Die Helmholtz-Medaille wird verliehen an
Professor Dr. rer. nat. Dr. h. c. mult. Friedrich Hirzebruch
in Anerkennung seiner herausragenden wissenschaftlichen Leistungen.
Professor Dr. rer. nat. Dr. h. c. mult. Friedrich Hirzebruch, geboren 1927 in Hamm/Westfalen, gehört zu den international renommiertesten Mathematikern Deutschlands. Er studierte von 1945 bis 1950 Mathematik, Physik und Mathematische Logik an der Universität Münster und an der ETH Zürich. Nach der Promotion in Münster (1950) arbeitete er zwei Jahre als Wissenschaftlicher Assistent am Mathematischen Institut der Universität Erlangen. Von 1952 bis 1954 war er Mitglied des Institute for Advanced Study in Princeton (USA), in dessen anregender Umgebung es ihm bereits in jungen Jahren gelang, mit dem heute nach ihm benannten Satz von Riemann-Roch-Hirzebruch ein Problem zu lösen, um das sich weltweit viele der besten Mathematiker bemüht hatten. Dieser Satz, auf dem in der Folge zahlreiche mathematische Arbeiten aufbauten, machte ihn gleichsam über Nacht weltberühmt.
Nach seiner Rückkehr habilitierte er sich 1955 an der Universität Münster für Mathematik und ging 1955/56 als Assistant Professor an die Princeton University (USA). 1956 wurde er zum Ordentlichen Professor der Mathematik an der Universität Bonn ernannt, wo er – trotz zahlreicher Gastaufenthalte an Forschungsinstituten in der ganzen Welt – bis zu seiner Emeritierung 1993 fast vier Jahrzehnte lang wirkte.
Friedrich Hirzebruch kreierte die inzwischen legendäre „Mathematische Arbeitstagung“, die seit 1957 die internationale Mathematiker-Elite versammelt. 1969 wurde an der Universität Bonn der Sonderforschungsbereich „Theoretische Mathematik“ gegründet, der unter seiner Leitung bald hohes internationales Ansehen genoss und Mathematiker der verschiedensten Richtungen zu erfolgreichem Wirken nach Deutschland führte. Auf diesem Potential konnte 1980 auch das Max-Planck-Institut für Mathematik in Bonn aufbauen, ein Forschungszentrum von internationalem Rang, das Hirzebruch als Gründer bis 1995 leitete. In Aufbau und Arbeitsweise dem Institute for Advanced Study in Princeton ähnelnd, bringt das Institut Mathematiker aus aller Welt zu wissenschaftlichem Gedankenaustausch sowie zur Diskussion neuer mathematischer Erkenntnisse und Probleme zusammen.
Hirzebruch ist ein genuin universeller Mathematiker, dessen grundlegende einflussreiche Arbeiten sich auf fast alle Gebiete erstrecken, die die Mathematik des 20. Jahrhunderts geprägt haben, nämlich Algebraische Geometrie, Topologie, Zahlentheorie und Singularitätentheorie. Exemplarisch genannt seien die auch ins Englische, Japanische und Russische übersetzte Monographie über „Neue topologische Methoden der algebraischen Geometrie“ (erstmals 1956; ND 1995) sowie die „Gesammelten Abhandlungen“ (1987), die einen Großteil seines wissenschaftlichen Œuvres vereinen.
Als Spiritus rector, Mentor und Organisator hat er der Mathematik in Deutschland einen unvergleichlichen Dienst erwiesen. Er, der die wissenschaftlichen Kontakte zum Osten stets engagiert förderte, war von 1961/62 der letzte Vorsitzende der noch gemeinsamen Deutschen Mathematiker-Vereinigung und 1990 deren erster nach der Wiedervereinigung. Zahlreiche Ehrendoktorate und Mitgliedschaften in- und ausländischer Akademien zeugen von der hohen Wertschätzung, die diesem Forscher seit Jahrzehnten entgegengebracht wird. Seine mathematischen Leistungen sind mit höchsten Ehrungen wie u. a. dem israelischen Wolf-Preis in Mathematik (1988), dem Großen Verdienstkreuz mit Stern der Bundesrepublik Deutschland (1993), dem Seki-Preis (Goldmedaille) der Japanischen Mathematischen Gesellschaft und dem japanischen Orden vom Heiligen Schatz, goldene und silberne Strahlen (1996), der Lomonossow-Goldmedaille der Russischen Akademie der Wissenschaften (1997) sowie der Aufnahme in den Orden Pour le mérite für Wissenschaften und Künste (1991) gewürdigt worden und sichern ihm einen bleibenden Rang.
Hirzebruch vereint in sich – in einer vielleicht nicht mehr zu wiederholenden Weise – die Qualitäten eines überragenden Wissenschaftlers von großer Originalität und eines einzigartigen Organisators, dessen Wirken von hohem Anspruch und ansteckendem Enthusiasmus geprägt ist.
Für seine herausragenden Leistungen ehrt die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften ihr Mitglied Friedrich Hirzebruch daher mit der höchsten ihr zur Verfügung stehenden wissenschaftlichen Auszeichnung.
Die Helmholtz-Medaille wird verliehen an
Professor Dr. Dr. h. c. mult. Jürgen Habermas
in Anerkennung seiner herausragenden wissenschaftlichen Leistungen.
Professor Dr. Dr. h. c. mult. Jürgen Habermas, geboren 1929, studierte Philosophie, Geschichte, Psychologie, Deutsche Literatur und Ökonomie in Göttingen, Zürich und Bonn. 1961 habilitierte er sich in Marburg mit einer Arbeit zum „Strukturwandel der Öffentlichkeit“. Von 1961 bis 1971 war er Professor für Philosophie bzw. für Philosophie und Soziologie in Heidelberg und Frankfurt/Main, anschließend bis 1980 Direktor am May-Planck-Institut zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt in Starnberg. von 1975 bis zu einer Emeritierung im Jahre 1994 lehrte er als Professor für Philosophie an der Universität Frankfurt/Main.
Jürgen Habermas hat die nationale und internationale Wissenschaft des 20. Jahrhunderts in herausragender, breiter und dynamischer Weise beeinflusst; er ist mit Abstand der international meistbeachtetste deutsche Sozial- und Geisteswissenschaftler der Gegenwart.
Habermas ist ein Denker von geradezu immenser Produktivität: so legte er mit der 1981 erschienenen „Theorie des kommunikativen Handelns“ seine wohl bedeutendste Veröffentlichung vor – weithin Beachtung fand u. a. auch die Monographie „Faktizität und Geltung“ (1992), in der er nach neuen Lösungen für rechtphilosophische Fragestellungen suchte.
Er hat es stets als Herausforderung begriffen, sich engagiert in die Gestaltung und Interpretation gesellschaftlicher Verhältnisse einzuschalten: Der Sozialphilosoph, Gesellschaftstheoretiker und Systemkritiker ist in der Vergangenheit an allen großen wissenschaftlichen Debatten sowie an zentralen öffentlichen und politischen Kontroversen, wie z. B. der Studentenbewegung und dem Historikerstreit, beteiligt gewesen.
Zahlreiche Gastprofessuren und Akademiemitgliedschaften im In- und Ausland, unzählige Auszeichnungen, jüngst mit dem Ehrendoktor der Universität Cambridge und dem Theodor-Heuss-Preis 1999, zeugen von seiner hohen internationalen Wertschätzung.
Für seine herausragenden Leistungen ehrt die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften Jürgen Habermas mit der höchsten ihr zur Verfügung stehenden wissenschaftlichen Auszeichnung.
Die Helmholtz-Medaille wird verliehen an
Sir Roger Penrose, Ph. D.
in Anerkennung seiner grundlegenden Arbeiten auf dem Gebiet der Mathematischen Physik, insbesondere der Einstein’schen Relativitätstheorie und deren Beziehung zur Quantentheorie.
Sir Roger Penrose, geboren 1931 in Colchester/England, ist Rouse-Ball-Professor für Mathematik an der Universität Oxford. Er studierte Mathematik in London und Cambridge, arbeitete nach seiner Promotion 1957 als Forschungsassistent an verschiedenen Universitäten in den USA und England, war ab 1964 als Reader und von 1967 bis 1973 als Professor for Applied Mathematics am Birkbeck College, London tätig.
Roger Penrose ist einer der führenden Forscher auf dem Gebiet der mathematischen Physik, insbesondere der Allgemeinen Relativitätstheorie, die er dank seiner vielseitigen Kenntnis mathematischer Methoden außerordentlich bereichert hat. So förderte er das Verständnis der Raumzeitstruktur im Großen durch Einführung konformer Ränder (1963). Aus der Theorie Schwarzer Löcher gewann er allgemeine strukturelle Einsichten, die sich auf die Horizontbegriffe beziehen (1968), sowie physikalische Ideen über Möglichkeiten der Energie-Extraktion aus rotierenden Schwarzen Löchern (1969). 1965 fand er den ersten Singularitätssatz, 1969 stellte er die noch unbewiesene Vermutung der „Kosmischen Zensur“ auf. Seit 1969 den Beziehungen der Allgemeinen Relativitätstheorie zur Quantentheorie zugewandt konnte er mit der von ihm entwickelten Twistortheorie überraschende mathematische Einsichten und Teilresultate auf dem Weg zu einer Quantentheorie der Gravitation vorlegen. Dem Geometer Penrose sind nichtperiodische Pflasterungen der Ebene zu verdanken, die er zehn Jahre vor der Entdeckung ihrer dreidimensionalen realen Analoga, den Quasikristallen, erfand. Schließlich hat sich Penrose allgemeinen Grundlagenfragen der Naturwissenschaften zugewandt. In diesem Zusammenhang hat er kontroverse Thesen über die Beziehungen zwischen klassischer und quantentheoretischer Naturbeschreibung und über das Verhältnis zwischen Geist und Materie aufgestellt.
Penrose wurde für seine Leistungen vielfach ausgezeichnet und mit hochrangigen internationalen Preisen geehrt. Von 1992 bis 1995 war er Präsident der International Society for General Relativity and Gravitation.
Die Helmholtz-Medaille wird verliehen an
Professor Dr. Avram Noam Chomsky
in Würdigung seiner bahnbrechenden Arbeiten zur Theorie der natürlichen Sprache, die das Verständnis der formalen Struktur, der psychologischen Mechanismen und der biologischen Grundlagen der menschlichen Sprachfähigkeit auf eine neue Stufe gehoben haben und prägend für die Entwicklung der kognitiven Wissenschaften geworden sind.
Professor Dr. Avram Noam Chomsky, geboren 1928 in Pennsylvania, ist Professor für Linguistik und Philosophie am Massachusetts Institute of Technology.
Mit dem Konzept der „Generativen Grammatik“, das unter anderem Ideen von Leibniz und Wilhelm von Humboldt mit Entwicklungen der modernen Logik von Frege bis Kleene und Turing verbindet, hat Noam Chomsky eine Wende in der Analyse und Erklärung der Struktur der menschlichen Sprachfähigkeit herbeigeführt, die nicht nur für die Linguistik eine neuartige Perspektive eröffnet und eine Fülle empirischer Untersuchungen ausgelöst hat, sondern auch die disziplinenübergreifenden Dimensionen auf neuartige Weise zum Thema gemacht hat. Die Auswirkungen dieser Entwicklungen gehören zu den entscheidenden Impulsen der kognitiven Wissenschaft nach Piaget, aber auch der Sprachphilosophie und der Diskussion methodologischer Grundfragen im Bereich der „Philosophy of Mind“.
Über diesen fächerübergreifenden Einfluss im Bereich der Kognitionswissenschaften hinaus hat sich Chomsky – unter anderem mit analytischen Arbeiten zum Vietnamkrieg, zum Nahostkonflikt und zur Rolle der Massenmedien – nachhaltig an der Diskussion brennender philosophischer und politischer Fragen unserer Zeit beteiligt.
Chomsky ist Mitglied der National Academy of Sciences, USA, und der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina.