Der Astronom Friedrich Wilhelm Bessel legte der Physikalischen Klasse am 4.11.1824 einen ausführlichen Plan vor, der die Anfertigung und Edierung möglichst vollständiger Himmelskarten vorsah. In 24 Blättern sollte etwa ein Viertel des gesamten - etwa ein Drittel des bei uns sichtbaren - Himmels kartiert werden. Mit den Berliner Sternkarten wurde der Versuch unternommen, "die Sterne der helleren teleskopischen Grössenklassen vollzählig zu ermitteln und in einem getreuen Himmelsbilde mit den helleren zusammen darzustellen." (1) Die eingesetzte Kommission, der die Mitglieder Bessel, Dirksen, Encke, Ideler und Oltmanns angehörten, hatte die Aufgabe, die zahlreichen Hauptsternwarten des In- und Auslandes für eine Mitarbeit zu gewinnen, die Arbeiten anzuleiten, zu koordinieren und die Ergebnisse zusammenzufassen.
Die Resonanz auf die Akademieinitiative war groß. Zahlreiche Astronomen sagten ihre Mitarbeit zu. (2) Schlagartig war damit die Akademie an die Spitze eines großen astronomischen Gemeinschaftsunternehmens gestellt. (3) Ihr ehrgeiziges Ziel war es, bis Ende 1828 alle Blätter fertiggestellt zu haben. Allerdings blieb auch dieser Kommission eine Erfahrung nicht erspart, die bereits die Historisch-philologische Klasse mit dem Corpus Inscriptionum hatte machen müssen: rasches Einverständnis über ein hohes, schönes Ziel und Arbeitseifer und Termintreue können stark auseinanderfallen. Im Bericht von 1828 konstatierte man deshalb, "die Hoffnung würde allzu kühn gewesen sein, zu glauben, alle Theilnehmer würden ihre Zusage erfüllen." (4) Abgeschlossen konnte das Vorhaben denn auch erst 1859 werden, freilich ohne vollendet zu sein. (5)
(1) Vgl.: Adolf v. Harnack: Geschichte der Königl. Preussischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Berlin 1900, 1.2:722.
(2) Vgl.: Abhandlungen der Akademie 1825, Berlin 1825:III ff, 1828:IX ff.
(3) Vgl.: Adolf v. Harnack: Geschichte der Königl. Preussischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Berlin 1900, 1.2:721.
(4) Abhandlungen der Akademie 1828, Berlin 1828:XIII f.
(5) Vgl. Monatsberichte der Akademie 1859, Berlin 1859:526.
Kurt Mothes war nicht nur Mitglied in der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin (DAW) sondern von 1954 bis 1974 auch Präsident der Leopoldina. Wenn beide Wissenschaftseinrichtungen heute über Möglichkeiten einer engen Zusammenarbeit nachdenken und gemeinsam eine "Junge Akademie" ins Leben rufen, dann darf Kurt Mothes als Teil der Vorgeschichte gelten.
Zum Ordentlichen Mitglied der Akademie wurde er im Februar 1953 gewählt. Sein hohes wissenschaftliches Ansehen trug ihm neben dieser Ehrung eine Vielzahl von Lehrstuhlangeboten auch aus der Bundesrepublik ein. Im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen schlug er die Berufung in den Westen allerdings aus. Er blieb in der DDR und unterzeichnete im Verein mit anderen Mitgliedern der DAW 1958 eine öffentliche Erklärung, die auf die schädlichen wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen des Kalten Krieges und einer möglichen Stationierung von Atomwaffen in Deutschland hinwies. (1) Beim Bau der Mauer 1961 hatte Mothes in Gesprächen mit Partei- und Regierungsspitze vehement protestiertund auf die drohende wissenschaftliche Selbstisolation der DDR hingewiesen. Seine Personalakte bei der Akademie zeugt von den zahlreichen, meist vergeblichen Versuchen, die politisch Verantwortlichen der DDR zu einem Aufbrechen dieser Isolierung zu bewegen.
Neben seinen wichtigen wissenschaftspolitischen Initiativen erarbeitete Mothes ein immenses, in der scientific community hoch angesehenes wissenschaftliches Werk. Sehr anschaulich schildert Hans Stubbe in seiner Zuwahlbegründung zur DAW die Forschungen.
"Prof. Dr. Kurt Mothes, geb. am 3. 11. 1900 in Plauen/Vogtland, studierte vom Jahre 1921 ab an der Universität Leipzig die Fächer Pharmazie, Chemie und Pharmakologie des Menschen und Botanik. Er promovierte bei Ruhland mit einer Arbeit über den Stoffwechsel der Säureamide in höheren Pflanzen und bestätigte in dieser Arbeit die Vorstellung von Prjanischnikov über die Bedeutung dieser Stoffe als Ammoniakentgifter durch Untersuchungen an Blättern. Im Jahre 1925 übersiedelte er an das Botanische Institut in Halle zu Karsten, wo er weiter über Ammoniakentgiftung, den Eiweißstoffwechsel der Blätter, das Arginin und die Alkaloide arbeitete. Daneben führte er algologische und ökologische Untersuchungen durch.
Im Jahre 1934 erhielt er von Roemer, Troll und von Wettstein das Angebot zur Teilnahme und später zur Leitung der Deutschen Hindukusch Expedition, mußte jedoch Anfang 1935 von der Leitung der Expedition zurücktreten, da eine Berufung nach Königsberg seitens der Naturwissenschaftlichen Fakultät von der sofortigen Übernahme des Ordinariats abhängig gemacht wurde. Er übernahm den Lehrstuhl für Botanik in Königsberg und las dort Botanik und Pharmakognosie. Die wissenschaftlichen Arbeiten der Königsberger Zeit kreisen um das Problem des Schwefels, um den Einfluß des Lichtes auf die Assimilation und Atmung verschieden pigmentierter Algen, um sekundäre Pflanzenstoffe aus dem Gebiet der Polyphenole und der Gerbstoffe. Er ließ von seinen Mitarbeitern und Schülern entwicklungsphysiologie Arbeiten über Algen und Moose anfertigen, und begann mit der Durchführung eines großen Arbeitsprogramms vegetationsgeschichtlicher Arbeiten zur Schaffung von Voraussetzungen für waldökologische Untersuchungen. 1940 nahm er auch die Arbeiten über Akaloide wieder auf.
Im Jahre 1942 wurde Mothes aufgefordert, den Plan eines ökologischen Forschungsinstituts zu entwickeln. Die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften beschloß auf Antrag von F. v. Wettstein und A. Kühn, ihm die Entwicklung und Leitung eine neuen Waldforschungsinstituts zu übertragen. De Entwicklung des Krieges veranlaßte Mothes, den Bau des Instituts bis nach dem Kriege zu verlegen, obwohl größere Geldmittel sofort zur Verfügung gestellt werden sollten.
Während der Belagerung von Königsberg blieb Mothes als Privatperson in der Festung und übernahm in den letzten Monaten die Leitung der zivilen und militärischen Versorgung mit Sanitätsmaterial. Er kam am 9.4.1945 in Gefangenschaft und blieb in der Sowjetunion bis zum September 1949.
Nach seiner Rückkehr in die DDR lehnte Mothes verschiedene Berufungen an ost- und westdeutsche Universitäten und ins Ausland ab und trat in das Institut für Kulturpflanzenforschung der Akademie als Leiter der Abteilung Chemische Physiologie ein. Ihn bewegt hierzu vornehmlich der Gedanke des notwenigen engen Zusammenschlusses verschiedener Arbeitsrichtungen zur Lösung grösserer gemeinsamer Aufgaben. Im Jahre 1950 übernahm er im Nebenamt das Ordinariat für Pharmakognosie an der Universität Halle, das er zu einem Lehrstuhl für Biochemie auszubauen versucht. Er ist Herausgeber der botanischen Zeitschrift "Flora" und der "Pharmazie". Im Jahre 1951 wurde der Aufbau der Abteilung Chemische Physiologie am Institut in Gatersleben durchgeführt, die nun zu den besten Arbeitsstätten dieser Art in Deutschland gehört. Mit einem ausgewählten Stab junger und älterer Mitarbeiter sind hier Problemgruppen in Angriff genommen worden und zum Teil schon gelöst worden, die theoretisch und volkswirtschaftlich von grosser Bedeutung sind. Es sollen nur die wichtigsten hervorgehoben werden.
In der Mutterkornforschung wurden die Grundlagen der Feldkultur erarbeitet und die chemisch-analytischen Arbeiten zur Isolierung wertvoller Rassen mit Erfolg zum Abschluß gebracht. Die wertvollsten Stämme, die in ihrem Alkaloidgehalt das Mehrfache des im Deutschen Arzneibuch geforderten Gehaltes haben, werden im Gesamtgebiet der DDR vermehrt.
Wichtige Erkenntnisse wurden über geschlechtsgebundenen Stoffwechsel einjähriger Pflanzen erarbeitet. Eingehende Analysen ergaben einen tiefgreifenden Unterschied im Eiweißumsatz männlicher und weiblicher Hanfpflanzen. Bei den männlichen Pflanzen findet in der Vollblüte eine totale Umstellung des Eiweißstoffwechsels statt. Er bricht völlig zusammen und es findet keine Stickstoffaufnahme mehr aus dem Boden statt.
Versuche zur vegetativen Hybridisierung dienen in erster Linie der Aufklärung der Physiologie der Pflanzenalkaloide. Sie haben gezeigt, daß ein Klon der Tollkirsche auf verschiedenen Tomatenunterlagen in sehr verschiedenem Ausmaß im Sproß Akaloide zu bilden vermag. Untersuchungen an Tollkirsche und Stechapfel ergaben ferner, daß auch in den Vegetationspunkten des Sprosses ein weiterer Herd der Alkaloidsynthese gesehen werden muß. Mit Hilfe einer papierchromatographischen Methode konnte eine leichte Trennung von Haupt- und Nebenalkaloiden durchgeführt werden. Das gilt in gleichem Maße für die Nikotin- wie für die Atropingruppe. Ein ausgearbeiteter qualitativer Schnelltest wird gestatten, ein großes Sortiment von Alkaloidpflanzen zu prüfen und damit die züchterische Arbeit auf eine neue Basis zu stellen.
Wichtige Untersuchungen hat Mothes in letzter Zeit über die Bildung der Purine durchgeführt. Veranlassung hierzu war das massenhafte Auftreten von Allantoin in der Wurzel von Ahorn, in den Blütenteilen und in den weißbunten Blättern. Analysen des Blutungssaftes aus Ahornstämmen und Ahornwurzeln ergaben, daß mehr als die Hälfte (bis zu 100%) der organischen Stickstoffverbindungen des Blutungssaftes aus Allantoinsäure besteht, zu einem geringen Teil aus Allantoin. Hieraus sind weitgehende Schlüsse zu ziehen über die Herauslösung dieses Allantoinstoffwechsels aus dem eigentlichen Nucleinsäurestoffwechsel und seiner Einbeziehung in den allgemeinen Eiweißstoffwechsel.
Von großer praktischer Bedeutung sind die in enger Zusammenarbeit mit der Genetischen Abteilung durchgeführten Prüfungen des Mutantensortiments von Sommer- und Wintergerste, die erkennen ließen, daß der Eiweißgehalt großen Schwankungen unterworfen ist. Es sind Stämme vorhanden, die bei einem Eiweißgehalt von 12% der Ausgangsform 18 - 20% Eiweiß enthalten, und die nach züchterischer Bearbeitung eine wesentliche Hilfe in der Futterversorgung unserer Haustiere sein werden.
Es stellt sich heraus, daß die Getreidegranne für die Höhe des Eiweißgehaltes im Korn von großer Bedeutung ist, zeigen doch grannenlose bzw. kurzbegrannte Formen stets einen höheren Eiweißgehalt als langbegrannte Formen. Ebenfalls von volkswirtschaftlicher Bedeutung werden die Arbeiten über die Bildung von Santonin und seine Beziehung zu anderen Terpenen sein, da sie die Möglichkeit geben, santoninreiche Pflanzen zu züchten und anzubauen.
Eine andere Problemgruppe, die von Mothes und seinen Mitarbeitern bearbeitet wird, betrifft phytopathologische und physiologische Probleme an Mikroorganismen. Es werden entwicklungsgeschichtliche Untersuchungen an Schmarotzerpilzen bei kultivierten Solanaceen durchgeführt, um Vorbedingungen zu einer zweckmässigen Bekämpfung dieser Schädlinge zu schaffen. Untersuchungen über die Lichtabhängigkeit des Wachstums von Schimmelpilzen ergab, daß unter Ausschaltung von Temperaturwirkungen der Lichteinfluß auf bestimmte Wellenbereiche beschränkt werden könnte. In diesem Zusammenhang muß auch die Entwicklung eines Ultrarot-Absorptionsschreibers zur Aufnahme von Photosynthesearbeiten erwähnt werden. Untersuchungen über sulfatreduzierende und wasserstoffoxydierende Bakterien haben zur Aufklärung des Fermentsystems dieser wichtigen Organismengruppe geführt.
Die Aufzeichnung dieser Problemgruppen, die von Mothes und seinen Mitarbeitern unter seiner Leitung bearbeitet werden, mögen genügen, um darzulegen, in welcher Vielseitigkeit sich seine wissenschaftliche Arbeit entfaltet. Er gehört zu den aktivsten Forschern auf dem Gebiet der chemischen Physiologie, die wir in Deutschland haben. Seine Arbeiten haben die Anerkennung nicht allein westdeutscher Botaniker, sondern auch derjenigen des Auslandes gefunden. Mehrfach wurden ihm Berufungen auf westdeutsche und ausländische Lehrstühle angetragen, die er bisher stets abgeschlagen hat. Seine Aufnahme in die Reihe der ordentlichen Mitglieder der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin ist zu empfehlen als eine entscheidende Stärkung biologischer und angewandt biologischer Forschungsarbeiten in der Akademie, zu deren Aufbau und Entwicklung auf dem Gebiet der Botanik er wesentlich beigetragen hat." (2)
(1) Gutachten für Kurt Mothes vom 9.11.1952, Archiv der BBAW, Sign.: Akademieleitung, Personalia, Nr. 320.
(2) Ibid.
Folgen der Selbstisolation
Ein eindrückliches Beispiel, wie sehr sich Kurt Mothes darum bemühte,die wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Auswirkungen der selbstverordneten Isolation der DDR durch den Mauerbau 1961 Akademieleitung und Politik vor Augen zu führen, damit Abhilfe geschaffen wird, bietet die Mutterkornforschung.
Der ungarische Pflanzenzüchter Thren hatte in einem Brief an Mothes mitgeteilt, daß die Gaterslebener Züchtungserfolge zu einer wesentlichen Steigerung des Ertrages von Mutterkorn-Alkaloiden in Ungarn geführt hätten. In seiner Stellungnahme an die Akademie zu diesem Schreiben teilte Mothes mit, daß nach den Anbauerfolgen in Ungarn, Österreich und der Schweiz aufgrund der Züchtungserfolge in Gatersleben auch die DDR diese Länder in der Mutterkornproduktion längst hätte überflügeln können. "Das mangelnde Verständnis der Dienststellen der DDR und der Mangel an völlig mechanisierten Impfeinrichtungen (1) verhinderten aber die wirkliche Ausnutzung unserer Züchtungen ... Im Jahre 1960 wurde zum ersten mal auf einer sehr begrenzten Fläche trotz ungünstigen Klimas eine solche Ernte an hochwertigem Mutterkorn erzielt, daß damit der Import völlig eingespart werden konnte. Das hier angebaute Mutterkorn ist seiner Qualität nach mehr als doppelt so alkaloidhaltig wie das importierte." (2)
Besonders drastisch verdeutlicht Mothes' Brief an den Akademiepräsidenten Werner Hartke vom 16.9.1963 den der DDR durch die eingeschränkten Reisemöglichkeiten für die Verwertung des Mutterkorns entstanden Schaden:
"Schon vor einigen Jahren machte ich nachdrücklich darauf aufmerksam, daß die zufällige Entdeckung einer neuen Mutterkornart in der unmittelbaren Nähe von Rom von größter wirtschaftlicher Bedeutung werden könnte. Ich hatte darum gebeten, uns die Möglichkeit zu geben, selbst in Italien nach diesem Mutterkorn suchen zu können.Es war nicht möglich. Heute stellt sich heraus, daß die Perspektive,die ich diesem Mutterkorn zugesprochen habe, richtig gesehen war. Das Unesco-Institut für Biochemie in Rom, dessen damaliger Leiter, der Nobelpreisträger Chain, die wichtigsten Arbeiten mit dem neuen Mutterkorn inauguriert hat, hat diese Art und die Verfahrensweise der Produktion von Mutterkornalkaloiden mit ihr an die Sandoz AG in Basel gegen ein enormes Geld verkauft. Der Vizedirektor der Sandoz AG, Dr. Hofmann, hat ein rein chemisches Verfahren entwickelt, um an die von diesem Mutterkorn in großer Menge gebildete Lysergsäure zyklische Peptide anzuhängen und damit wertvolle Mutterkornalkaloide herzustellen in einem halbsynthetischen Verfahren. Ich schätze, daß in zwei Jahren jeder Mutterkornanbau in den sozialistischen Ländern wegen der Unterbietung aller Preise eingestellt werden muß, jedenfalls soweit ein internationales Geschäft damit verbunden war." (3)
Auch die wissenschaftliche Kooperation mit der Sowjetunion hatte an Stellen, wo es um wirtschaftliche Interessen ging, ihre Grenzen: "Meine vielfachen Bemühungen, in den Besitz von ähnlichem Mutterkorn aus sowjetischen Gebieten zu kommen, sind fehlgeschlagen. ... Wir sind weder selbst in die fraglichen Gebiete gekommen, noch haben die Institute in Jerevan und Tiflis unseren Wünschen entsprochen, uns Mutterkorn von Wildgräsern aus ihren Gebieten zu senden." (4)
(1) Zur Impfung der Pflanzen mit dem Mutterkorn-Pilz.
(2) Kurt Mothes, Stellungnahme zu dem beiliegenden Schreiben von Professor Dr. Thren an Professor Mothes, 10.1.1961, Archiv der BBAW, Sign.: Akademieleitung, Personalia, Nr. 320.
(3) Archiv der BBAW, Sign.: Akademieleitung, Personalia, Nr. 320.
(4) Ibid.
as Forschungsschiff "National", das am 15. Juli 1889 zur Erforschung des Planktons in den Atlantischen Ozean gestartet war, lief am 7. 11. 1889 nach erfolgreicher Expedition mit reichhaltigem Sammlungsmaterial wieder in den Kieler Hafen ein. Die Akademie hatte das Unternehmen aus Mitteln der Alexander-von-Humboldt-Stiftung für Naturforschung und Reisen mit 24.600 Mark unterstützt, aus dem Dispositionsfond des Kaisers waren 70.000 Mark zugeflossen und der deutsche Fischereiverein hatte 10.000 Mark beigesteuert. Mit 1000 Mark privater Spende zur Mitnahme eines Marinemalers standen der Exkursion insgesamt 105.600 Mark für das ca. viermonatige Unternehmen zur Verfügung.
Als Aufgabe hatte man sich vorgenommen, "Thiere und Pflanzen des atlantischen Oceans sollten, soweit sie dem Plankton angehören, durch eine Expedition der Humboldt-Stiftung erbeutet, und nach Verbreitung, Art und Anzahl möglichst genau registriert" (1) und damit eine der für die Zeit bedeutendsten Forschungen auf dem Gebiet der Klein- und Kleinstlebewesen der Weltmeere durchgeführt werden. "Nachdem die Industrie durch Versenkung und Wieder-Aufnahme ihrer erdumspinnenden Kabel (Challanger-Expedition - Red.) die Bahn gebrochen, haben wissenschaftliche Expeditionen verschiedener Nationen festgestellt, dass in den oceanischen, kaum 7000 m überschreitenden Tiefen Thiere aus verschiedenen Klassen des Thierreichs in nicht zu grosser Spärlichkeit vorkommen. Allbekannt war, dass sich in der Oberfläche des Meeres mancherlei Organismen befinden. Das Meer bedeckt zwei Drittel der Erdoberfläche. Wo ist das Ende seines Massen- und Formenreichtums? Welche Nothwendigkeiten regeln und begrenzen seine Zeugungen? Die Beantwortung dieser Fragen erfordert Thatsachen, Messungen, Erwägungen, in immer sich erneuenden Reihen." (2)
Mit eigens hergestellten Netzen, die auch den Fang allerkleinster Organismen erlauben würden, machten sich die Forscher unter Leitung von Victor Hensen, Professor in Kiel, korrespondierendes Akademiemitglied und Vorsitzender der Preußischen Meeres-Kommission, in den Atlantik auf - gewiß begleitet von den Hoffnungen der Fischereiwirtschaft, die Klärung der Frage nach dem Zusammenhang zwischen konzentrierten Vorkommen von Plankton und großen Fischschwärmen, weise den Weg zu sicheren und ergiebigen Fanggebieten.
Wie bei großen Unternehmungen häufig, führt gerade der Erfolg zu neuen Schwierigkeiten. Hensen vermeldete unter den Ergebnissen in der ersten Auswertungsperiode, daß 126 Planktonnetze gefischt wurden, von denen 55 noch auszuwerten waren. Je weiter die Bearbeitungen voranschritt, desto klarer wurde die ungeheuere Vielfalt der Lebewesen: "Es ist Neues gefunden, mehr als mir lieb ist, namentlich unter den kleinerern Formen", schrieb Hensen. (3) Neben den vielen bisher unbekannten Spezies mariner Klein- und Kleinstlebewesen gewannen die an der Exkursion beteiligten Wissenschaftler Erkenntnisse über jahreszeitlich bedingte Schwankungen der Plankton-Schwärme, die Einflüsse verschiedener Faktoren auf die Vermehrungsvorgänge der unterschiedlichen Formen und deren Lebensräume in verschiedenen Tiefen. Es wurde auch deutlich, daß die Kurven der Planktonmassen nach Artzusammensetzung und Volumen sehr ungleichmässig verteilt sind. Gleichwohl konnte die ganze Produktivität des Meeres nur erahnt werden. (4) Zumindest in einer Hinsicht wurden Erwartungen allerdings enttäuscht: "Allen aus theoretischen Gründen gehegten Erwartungen entgegen zeigte sich in den tropischen Gewässern die Menge des Planktons überraschend gering." (5)
Die wissenschaftliche Auswertung der Plankton-Expedition nahm noch mehrere Jahre in Anspruch; ihre Resultate sind in fünf Bänden mit jeweils mehreren Lieferungen publiziert worden.
(1) Ergebnisse der in dem Atlantischen Ocean von Mitte Juli bis Anfang November 1889 ausgeführten Plankton-Expedition der Humboldt-Stiftung, hrsg. v. Victor Hensen, Bd. 1, Kiel und Leipzig 1892:V.
(2) Ibid.
(3) Ibid:19.
(4) Vgl.: Ibid:36ff.
(5) Vgl.: Bericht über die Humboldt-Stiftung in der öffentlichen Sitzung zum Gedächtnis Friedrich des II. und zur Vorfeier des Geburtsfestes S. M. des regierenden Kaisers und Königs am 23. 1.1890, Berichterstatter: Emil du Bois-Reymond, in: Sitzungsberichte der Akademie, Berlin 1890:87.
Akademie, Geschichtswissenschaft und Wissenschaftspolitik haben Anlaß, sich seiner als eines der wissenschaftspolitisch einflußreichsten und auf dem Gebiet der mittelalterlichen Grundlagenforschung produktivsten Arbeiters und Organisators im späten Kaiserreich und in der Zeit der Weimarer Republik zu erinnern. Nicht wegzudenken ist Kehr auch aus der Geschichte der wissenschaftlichen Beziehungen zwischen Deutschland und Italien, und die Freundschaft eines Gelehrtenpapstes wie Pius XI. (1922-39) mit diesem "ziemlich unchristlichen, positiv skeptischen deutschen Gelehrten von allerdings wenig sehenswerter protestantischer Provenienz" (so Kehr über sich selbst) ist eine bemerkenswerte Erscheinung. Dieser Gelehrte aus Thüringen hatte in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts die Sammlung und kritische Bearbeitung der vielen tausende von Papsturkunden in den unzähligen Archiven Europas zur Lebensaufgabe gewählt und mit Hartnäckigkeit, Weltläufigkeit und Organisationskraft sowie der Hilfe von Mitarbeitern bis in die dreißiger Jahre unseres Jahrhunderts weit vorangetrieben.
Die Eigenschaften, die ihn hier zu befähigten, haben ihn in seine nur mit wenigen anderen vergleichbare Einflußposition in der preußischen Wissenschaftspolitik gebracht, die er von der Zeit des Ersten Weltkriegs bis zum Ende der Weimarer Zeit für sein Fach einnahm; aber die Archive und Handschriftensammlungen Deutschlands und Italiens nannte er seine "wahre Heimat". Die Macht, die er in der Gewinnung und Anleitung von Mitarbeitern und in der Berufungspolitik auszuüben wußte, hat ihn zu einem gefürchteten Mann gemacht; er hätte sie jedoch nicht ausüben können, wenn er nicht gewußt und danach gehandelt hätte, daß sich in der Wissenschaft nichts kommandieren läßt.
Die Einseitigkeit, mit der er sich der Urkundenedition widmete, gibt Anlaß zur Kritik an ihm als Historiker; größere historische Darstellungen sind von ihm kaum erschienen, den Lehrbetrieb der Universitäten hat er nicht geliebt und nach einem Jahrzehnt gern davon Abschied genommen, wie er die ganze Entwicklung der Universitätsbildung seit der Zeit um 1890 als einen Niedergang betrachtet hat, der in der Bildungskatastrophe nach 1933 nur seine Vollendung fand. Aber auf dem Gebiet der mediävistischen Grundlagenforschung hat er Aufbau- und Rettungsarbeit geleistet, an die der Neuaufbau dieser Wissenschaft nach 1945 anknüpfen konnte und die in der seit 1968 und 1989 erneut schwieriger gewordenen Bildungslandschaft neuer Anknüpfung bedarf.
Der Zentralgedanke seines Gelehrtenlebens war es, daß die Universitäten mit ihrer Aufgabe der Bildung und Ausbildung die historische Forschung nicht mehr zu sichern vermöchten und es deshalb der Einrichtung eigener Grundlagenforschungsinstitute bedürfe, die ihren eigenen Nachwuchs auszubilden und zur Bildung des Universitätsnachwuchses beizutragen hätten. Dies hat er in Marburg, wo er sich habilitierte, mit der Gründung der Marburger Archivschule getan; in diesem Sinne hat er, ebenso bis heute wirksam, ab 1903 das Preußische Historische Institut in Rom neugestaltet, und in enger Verbindung mit dieser Tätigkeit hat er die Monumenta Germaniae Historica in Berlin, zu deren Direktor er 1919 von deren Zentraldirektion gewählt wurde, weiterentwickelt; es entsprach jedenfalls organisatorisch seinen Plänen, daß diese 1935 zu einem "Reichsinstitut für ältere deutsche Geschichtskunde" erhoben wurden, und die enge räumliche Verbindung mit der Berliner Staatsbibliothek, die er 1925 für sie erreichte, ist ebenso wie ihre Präsidialverfassung in der Verlagerung und Ansiedlung in der Bayrischen Staatsbibliothek in München nach dem 2. Weltkrieg vorbildlich geblieben.
Lehrer Paul Kehrs war Theodor Sickel (1826-1908), ein deutscher Pfarrersohn, der von der Theologie zur Geschichtswissenschaft übergegangen und als 1848er Flüchtling in Paris die "École des Chartes" (Schule der Urkundenlehre) besucht und nach deren Vorbild ab 1856 das "Institut für österreichische Geschichtsforschung" in Wien zu einem zweiten Zentrum der historischen Hilfswissenschaften aufgebaut hatte; er war der erste deutsche Urkundenforscher großen Stils. In Wien wurde Kehr von Sickel in die Arbeit an den mittelalterlichen Kaiserurkunden für die Monumenta Germaniae Historica einbezogen, von hier aus wurde er 1886 im Auftrag der Monumenta nach Rom geschickt, wo nach der Öffnung des Vatikanischen Archivs für die Forschung durch Papst Leo XIII. (1879) ein Österreichisches Historisches Institut als Ableger des Wiener Instituts für die damit eröffnete Forschungsaufgabe gegründet worden war; Kehr hat dies erste römische Jahr als das schönste seines Lebens geschildert. Er wurde in Wien und Rom zugleich in gesellschaftliche Kreise eingeführt, die dem Provinzler verschlossen waren und in denen er die Weltgewandtheit gewann, die die andere Seite seines konzentrierten Arbeitslebens bildete. Aber die Liebe zu Rom war schon in dem 18jährigen Studenten, der sich in den Vorlesungen langweilte, geweckt worden, als ihm die "Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter" von Ferdinand Gregorovius in die Hände fiel, und dies Ziel Italien war es auch gewesen, was ihn nach Wien zu Sickel führte.
Der große Plan der Ausgabe der Papsturkunden entstand zu Beginn der ungeliebten Professorenzeit in Göttingen 1896, und nun trat als Förderer der andere große Freund Kehrs auf den Plan: Friedrich Althoff (1839-1908), von 1882 bis 1907 Dezernent und Ministerialdirektor im Preußischen Kultusministerium, der nahezu allmächtige Leiter der Personalpolitik für die preußischen Universitäten, dessen gewissenhafter Gutachterpolitik die Universitäten zu seiner Zeit viel verdanken. Mit einem umstrittenen publizistischen Schachzug brachte Kehr sich selbst in die Debatte um die Neuorganisation des 1888 nach dem Vorbild des österreichischen gegründeten Preußischen Historischen Instituts in Rom, dessen Direktorstelle neuzubesetzen war und ihm 1903 übertragen wurde. Kehr wurde damit zu einer der Schlüsselfiguren in der beginnenden und vom Kaiser geförderten Wissenschaftspolitik, die auf modernere Organisationsformen gerichtet war; er kam in Verbindung mit dem Kirchenhistoriker Adolf Harnack, dem der Kaiser seit 1900 sein besonderes Vertrauen schenkte, er gewann die Förderung des Bibliothekars der Mailänder Biblioteca Ambrosiana, Monsignore Achille Ratti, der später Papst wurde, ebenso wie er schon die Förderung der Leiter der Vatikanischen Bibliothek gewonnen hatte, und er trat selbst mit dem Kaiser in Verbindung, als er diesen 1905 auf dessen Reise zu den Hohenstaufenschlössern in Süditalien begleitete.
1915 durch den Krieg in Rom "stellungslos", wurde er in Berlin - das er wenig liebte - zum Generaldirektor der Preußischen Staatsarchive (bis 1929) und Leiter des neuen Historischen Instituts der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft ernannt. 1919 wurde er zum Vorsitzenden der Zentraldirektion der Monumenta Germaniae Historica, 1918 zum Ordentlichen Mitglied der Preußischen Akademie gewählt, und den Wiederaufbau des Instituts in Rom leitete er ab 1920 von Berlin aus erneut als dessen Direktor; 1936 trat er in allen Funktionen in den Ruhestand. Aber in all diesen Jahren und danach hat er seine Editionsarbeit an Papst- und Kaiserurkunden fortgesetzt und war in jeder freien Zeit in Archiven auf Reisen. 1931 gelang es ihm, die weitere Arbeit an den Papsturkunden durch die vom Papst geförderte Gründung einer "Pius-Stiftung für Papsturkunden und mittelalterliche Geschichtsforschung" beim Schweizer Bundesrat finanziell zu sichern.
Die ältere Kirchen- und Reichsgeschichte verdankt dem vielseitig-einseitigen überlegenen Können Paul Kehrs Unendliches; auf die sicheren Grundlagen seiner Leistungen ist auch eine moderne Historiographie, der seine Zeit und ihre Geschichtsschreibung viel zu eng erscheint, angewiesen. Seine Skepsis gegenüber dem, was an den Universitäten geschieht, wäre ohne Zweifel heute größer denn je. Die Breitenbildung erfordert Methoden, zu denen dieser Typus des Gelehrten nichts beizutragen hatte; aber diese Grenze ist bei ihm die Kehrseite der seltenen Tugend gewissenhafter Exaktheit, und ohne die noch seltenere Fähigkeit zu Organisation und Regiment kann die Wissenschaft insgesamt heute nicht mehr gedeihen. Kehr hat sich selbst einmal "einen innerlich kalten Menschen" genannt; dies ist aber, wie die Akten und Briefe zeigen, die Kühle eines klaren Lebenszieles gewesen, die Freundschaft und Fürsorge für seine Mitarbeiter einschloß. Er hat seine Leistungen im Widerstand gegen den von ihm diagnostizierten Niedergang der Wissenschaft erbracht, und Skepsis war seine letzte Antwort auf die Geschichte auch seiner eigenen Zeit.
Am 9. November 1944 starb Paul Kehr, dessen Büste den Besucher in der Eingangshalle des Deutschen Historischen Instituts in Rom begrüßt; er war der Direktor und Neugestalterdieses (damals "Preußischen") Instituts 1903 bis zu seiner Schließungbeim Kriegseintritt Italiens 1915 und erneut von 1920 bis 1936 gewesen.
Kurt-Victor Selge
Der Chemiker Andreas Sigismund Marggraf trug am 16.11.1747 den Akademiekollegen über seine Entdeckung vor, daß die "Salze" des Süßstoffs aus dem Zuckerrohr die gleiche Kristallform besitzen wie die aus dem Rübensaft. Aus seiner mit dem Mikroskop gemachten Beobachtung schloß er, daß in der Rübe und im Zuckerrohr die gleichen "Salze" - also die gleichen Zuckerkristalle vorhanden sein müssen. (1) Sein Nachfolger Franz Carl Achard hat diese Entdeckung in dem ausgebauten Akademielaboratorium 1801 in ein technologisches Verfahren der Zuckerherstellung aus Zuckerrüben umgesetzt.
Wer mehr über die Gewinnung des Zuckers und den gesellschaftlichen Umgang mit ihm wissen will, der besuche das Berliner Zucker-Museum. Dort kann man noch heute Gerätschaften und Süßigkeiten aus der frühen Zeit der achardschen Zuckerproduktion im schlesischen Kunern betrachten. (2)
(1) Vgl.: Expériences Chymiques faites dans le dessein de tirer un véritable sucre de diverses plantes, qui croissent dans nos contrées. Mémoires der Akademie 1747, Berlin1747:79-90.
(2) Wenn Sie die Internetsite des Zucker-Museums außerhalb unseres Servers betrachten wollen, geben Sie bitte folgende URL ein: www.dtmb.de/Zucker-Museum .
Gelungener Transfer:
Vom Akademielabor zur Zuckerfabrik
Im Chemischen Laboratorium der Akademie versuchte sich der Chemiker und Physiker Franz Carl Achard (1753 - 1821) an der Zuckergewinnung aus der Rübe. Seine Experimente begriff er als Modell für die künftige großtechnologische Herstellung. Achard beschäftigte sich seit 1786 auf seinem Gut in Kaulsdorf mit dem Zuckerrübenanbau. 1799 richtete er ein Gesuch an Wilhelm III, in dem er um das Privileg für die Fabrikation von Rübenzucker bat. Der König lehnte dies zunächst ab. Nach weiteren Versuchen mit positiven Resultaten wurde ihm schließlich ein Darlehen von 50.000 Talern zum Ankauf eines Gutes im schlesischen Kunern gewährt; dort errichtete Achard 1801 die erste Fabrik, in der Rübenzucker hergestellt wurde. (1)
(1) Vgl: 250 Jahre Rübenzucker 1747 - 1997. Was Marggrafs Entdeckung bewirkte und veränderte, Berlin 1997.
Rußland auf den Weg der Reform geführt
Die Berliner Akademie der Wissenschaften zählte vier gekrönte Häupter zu ihren Mitgliedern. Außer dem kaum noch erinnerten Kaiser von Brasilien, Pedro II. (1831 bis 1889), waren es drei bedeutende Repräsentanten des "Aufgeklärten Absolutismus": Friedrich der Große ( 1740 bis 1786), Katharina II. von Rußland (1762 bis 1796) und König Stanislaus August Poniatowski von Polen (1764 bis 1795). War es nur eine freundliche Geste zwischen verbündeten Höfen, wenn Friedrich II., der sich 1764 selbst zum amtierenden Akademie-Präsidenten erklärt hatte, die Aufnahme der Zarin Katharina als Auswärtiges Mitglied seiner Académie Royale anordnete?
Gewiß kann auch das staatliche Interesse als ein wichtiger Grund vermutet werden, aber es muß nicht das erste Motiv für den König gewesen sein. Denn zwischen den Gelehrten-Gesellschaften in Berlin und Petersburg gab es genügend wissenschaftliche Affinitäten, denen eine Zuwahl der russischen Kaiserin- übrigens der ersten Frau in dem Herrenclub - einen besonderen Akzent zu geben vermochte: Beide Gründungen beruhten auf Leibniz'schen Konzepten,und beide hatten in Friedrich und Katharina aufgeklärte Herrscher als Förderer, die durch ihre schriftstellerischen, vor allem historiographischen und literarischen Ambitionen und ihre internationale Geltung auch den Akademien zu Glanz verhelfen mochten.
Das Urteil über Katharina war und blieb schwankend. Die liberale Auffassung im 19. Jahrhundert rühmte an ihr vor allem die aufgeklärte Machtausübung und die Öffnung gegenüber den Strömungen des europäischen Zeitgeistes. Lange verstand man ihren Versuch, die Autokratie als aufgeklärten Absolutismus zu handhaben, als Ansatz zu einer theoretischen Neubegründung der Herrschaft in Rußland überhaupt. Doch damit sei Katharina in ihrem rückständigen Land schnell an die Grenzen des Möglichen gestoßen. Die Debatte wirkt bis heute, und vielleicht ist der Blick dafür schärfer geworden, wo - angesichts der autokratischen Erbschaft - die besonderen Reformprobleme Rußlands für Katharina gelegen haben.
Wenn hier überhaupt von Erfolgen gesprochen werden kann, dann waren es die Bildungs-, die Wissenschafts- und die Kulturpolitik, die in das agrarisch-konservative Rußland jenen Spielraum von Öffentlichkeit hineingebracht haben, an dem gesellschaftliche Modernisierung ansetzen konnte. So ist in den letzten Jahrzehnten der geistigkulturelle Entwicklungsschub, den Rußland selbst, aber auch seine Beziehungen mit Europa in der Ära Katharinas erfahren haben, in den Vordergrund der Diskussion gerückt. Nicht zuletzt die Akademien in Petersburg und Berlin waren ein Instrument dieser kulturpolitischen Europäisierung Rußlands im 18.Jahrhundert.
Außer der Petersburger Akademie der Wissenschaften, den Universitäten Petersburgs und Moskaus mit ihren Gymnasien, gab es vor Katharinas Regierung kaum nennenswerte öffentliche Bildungsinstitutionen in Rußland. Die Ansätze des großen Reformerzaren Peter für die Entwicklung von Elementarschulen waren unter seinen Nachfolgern steckengeblieben. Katharina nahm den Faden wieder auf; sie folgte dabei dem österreichischen Muster, das der Absolvent der Universität Wien, der Serbe Theodor Jankovic, nach Petersburg brachte, wo er maßgeblich an der "Kommission für die Gründung von Volksschulen" von 1782 mitarbeitete. Die Kommission leistete die Vorarbeit für die "Verordnung über die Volksschulen" von 1786. Danach sollten in jeder Kreisstadt eine "kleine Volksschule", eine Hauptvolksschule (Gymnasium) und im ganzen Reich vier Universitäten gegründet werden. Was sich davon verwirklichen ließ, war relativ bescheiden. 1793 gab es in Rußland 311 öffentliche Schulen mit 738 Lehrern und 17 297 Schülern - bei einer Bevölkerungszahl von 26 Millionen.
Auch die Modernisierung der russischen Schriftsprache machte unter Katharina Fortschritte. Vor allem trug die akademische Beschäftigung mit der Literatur dazu bei, und die literarische und philosophische Bildung erreichten - auch in der Folge der Dienstbefreiung des Adels - bald eine gesellschaftliche Breitenwirkung. Es entstand ein Lesepublikum, das in Vereinen und Gesellschaften einen regen Gedankenaustausch suchte. Impulse hierfür kamen auch von den Freimaurerlogen in den beiden Hauptstädten St. Petersburg und Moskau. Für die nationale Bildung war das von großer Bedeutung, denn in diesem - schnell als "Goldenes Zeitalter" deklarierten - Anstieg russischer Adelskultur mit seinen Anfängen einer gebildeten Gesellschaft wurzelte diejenigen Generation, die als die jungen Russen - in den napoleonischen Kriegen Europa begegneten.
Von hier aus ergibt sich nicht zufällig ein Brückenschlag zu den Dekabristen, dem ersten Aufbruch der revolutionären Bewegung im Zarenreich. Es zeigte sich, daß, wo die Reform der Autokratie ausgeblieben war, Bildungsreform und Kulturpolitik allein nicht ausreichten, gesellschaftlichen Wandel bis zu mehr politischer Öffentlichkeit zu führen. Diese konnte in Rußland mit seiner inneren Versteinerung erst auf dem langen Marsch durch die revolutionäre Bewegung eingeholt werden.
Katharina - Friedrich - Stanislaus August - allen drei Monarchen wird man ihre besonderen Verdienste für die Wissenschaftsförderung und die Bildungsreform ihrer Länder zuerkennen können. Sie folgten darin gewiß auch einem Zug der Zeit. Katharina mit ihrem schwankenden Charakterbild - Alexander Puschkin sprach von "Tartuffe in Weiberrock und Krone" - überragte ihre beiden Zeitgenossen durch die Schwierigkeit ihrer Aufgabe: Rußlands Reform.
Klaus Zernack
Für seine Tätigkeit als Akademiepräsident erhielt Leibniz kein Gehalt. Vielmehr hatte ihm der König eine jährliche Reisekosten- und Correspondenz-Entschädigung von 600 Talern zugebilligt.
Nun war der Präsident nach Feststellung der Mitglieder des Akademiedirektoriums allerdings seit dem Frühjahr 1711 nicht mehr in Berlin gewesen und hatte zuletzt auch die Korrespondenz eingestellt. Die finanzielle Situation war, wie so oft, beklagenswert. Und schließlich machte in der Stadt das Gerücht die Runde, Leibniz habe sich entschieden, am österreichischen Hof die hochbesoldete Stellung eines Reichshofrates anzutreten.
Aus all diesen Gründen glaubte das Direktorium auf 'dringenden Handlungsbedarf' erkennen zu müssen. In einer Eingabe an den König forderte man, die Zahlungen an Leibniz einzustellen, "weil er nicht mehr in dem Stande, seiner Capitulation Genüge zu thun". (1) Um die freiwerdende Summe - in den drei präsidentenlosen Jahre hatten sich immerhin 1800 Thaler angesammelt - einer nützlichen Verwendung zuzuführen, wurde der Kauf des Spenerschen Naturalienkabinetts vorgeschlagen. Im übrigen solle die jährliche Entschädigung in Übereinstimmung mit einer königlichen Verordnung von 1710 den Direktoren und dem Fiscal zufallen; dies sei nur recht und billig, habe man doch vierzehn Jahre lang die Geschäfte "treulich verwaltet". (2)
Was Harnack für "schnöde Undankbarkeit" der Berliner Freunde in der Akademie hielt und als das "dunkelste Blatt der Geschichte der Societät" (3) bezeichnete - dabei freilich das Ausmaß an Dunkelheit, welche das 20. Jahrhundert noch bereithalten sollte, stark unterschätzend - endete mit Einbußen für alle, allein der König blieb schadlos: Leibniz' Entschädigung wurde auf 300 Thaler gekürzt, das Direktorium ging zugunsten des Sekretars, der zukünftig immerhin 200 Thaler erhalten sollte, leer aus; für Anschaffungen wurden als außerordentliche Vergünstigung 830 Thaler gewährt. (4) Alles in allem also eine schöne Ersparnis für die Staatskasse. - Man weiß mithin nicht recht, ob Friedrich Wilhelm sie geschätzt hat, "diese narren Possen" seiner Herren Akademiker.
1) Adolf Harnack, Geschichte der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Berlin 1900, Bd. 1.1, S. 196 f. (Fußnote 4)
2) Ibid, S. 197
3) Ibid, S. 196
4) Ibid, S. 198
Red.
Ein starker erster Satz ist untrügliches Kennzeichen für einen Roman mit Anspruch auf Klassikerstatus. Gelingt ein solcher Satz einem Geisteswissenschaftler, drohen wissenschaftliche, zumindest aber organisatorische Revolutionen. "Der Akademie kann die Bemerkung nicht entgehn, dass sie in ihrem gegenwärtigen Zustande auf keine Weise den Ansprüchen genüge, welche man an die erste wissenschaftliche Anstalt Preussens zu machen berechtigt ist. Unmöglich kann nehmlich der Zweck einer solchen sein, dass einzelne Gelehrte einer sehr geringen Anzahl von Mitgliedern eigne Abhandlungen vorlesen, die dann gedruckt werden." (1) Mit dieser unerhörten Feststellung beginnt der von August Böckh im März 1815 an die historisch-philologische Klasse der Akademie gerichtete Antrag, ein Corpus aller antiken Inschriften zu erstellen. (2)
Böckhs Vorschlag forderte von der Akademie nichts weniger als die Einführung einer organisatorischen Innovation: die Abkehr vom überkommenen Modell der Einzelforschung zugunsten einer gemeinsamen Arbeit mehrerer Wissenschaftler an einer Aufgabe, die zudem, wollte sie fruchtbar sein, Fächergrenzen überschreiten mußte. Das Vorhaben bildete damit das Paradigma für eine "neue Alterthumswissenschaft", die aus "der engen Verbindung der Philologie mit der antiken Philosophie, dem Rechtsstudium und der Kunstwissenschaft" entsprang. (3)
Gut zwei Jahre ging die Akademie mit diesem großen Gedanken schwanger,um endlich am 3.7.1817 in ihrer öffentlichen Sitzung zum Leibniz-Tag verkünden zu können: "Die historisch-philologische Klasse hat die Ausgabe einer möglichst vollständigen Sammlung griechischer Inschriften unternommen, welche auch bereits eifrig betrieben wird." (4)
Weil Inschriften die Eigenschaft haben, sich zu vermehren, wenn sie erst einmal als wichtige gesellschaftshistorische Quelle entdeckt sind,und die Ansprüche der wissenschaftlichen Gemeinschaft an valide Beschreibung, analytische Durchdringung und die Qualität der Dokumentation sich ändern, befaßt sich die Akademie auch heute noch mit griechischen und lateinischen Inschriften. Sie sind nun Teil dessen, was in der wissenschaftshistorischen Folklore als 'normal science' beschrieben wird.
August Böckh freilich, der zwischen 1834 und 1861 Sekretar der Philosophisch-historischen Klasse der Akademie war, wird nicht nur als berühmter Althistoriker - seine 'Staatshaushaltung der Athener' wird noch heute gelesen -, sondern auch als Wissenschaftsinnovator im Gedächtnis bleiben, der erkannte, daß es auch in den Geisteswissenschaften Aufgaben gibt, "die kein Einzelner leisten kann" und für diese neuartigen Unternehmungen in der Akademie einen geeigneten institutionellen Ort fand (5).
(1) Antrag der historisch-philologischen Klasse, ein Corpus Inscriptionum zu unternehmen, concipirt von Böckh, redigirt von Buttmann (24. März 1815), in: A. v. Harnack, Geschichte der Königl. Preussischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Berlin 1900, II:374-375.
(2) In: Ibid:374-378
(3) A. v. Harnack, Geschichte der Königl. Preussischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, a.a.O., Bd. 1.2:667.
(4) Abhandlungen der Akademie von 1816, Berlin 1816/1817:5.
(5) Harnack Bd. 1.2:670.